Statt die AfD verbieten zu wollen, sollte die SPD dem Feindbild dankbar sein
Auf dem jüngsten Parteitag präsentierte sich die SPD wie so oft als Partei der Wiederholung. Einstein sagte bereits, dass es die Definition von Wahnsinn ist, alles beim alten zu lassen und trotzdem neue Ergebnisse zu erwarten. Davon hat die SPD noch nie was gehört.
Der Wahnsinn und das Alte
Sie wurstelt in froher Fahrt weiter an den Rezepten, die ihr bei der letzten Wahl das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte gebracht haben. Wieder wurden Steuererhöhungen für Vermögende, stärkere Besteuerung von Kapitalerträgen und Kritik an Mietgewinnen gefordert – als wären das die Themen, die die „Arbeiter“, die die SPD wahrscheinlich nur noch aus Geschichtsbüchern über die industrielle Revolution kennt, am meisten umtreiben.
Dabei wird regelmäßig auf eine angeblich immer reicher werdende Elite eingeschlagen, obwohl die reichsten 25 Prozent der Bevölkerung mehr als 70 Prozent des gesamten Steueraufkommens tragen.
Gleichzeitig setzt sich die Partei für noch höhere Sozialleistungen ein, als ob die „Arbeiter“ in der letzten Wahl laut nach „noch mehr Bürgergeld“ geschrien hätten.
Die verlorene Nähe zur Arbeiterschaft
Die einstige Arbeiterpartei wirkt heute entfremdet von ihrer ursprünglichen Basis. Wer früher für die Interessen von Malochern in der Industrie stand, spricht heute bevorzugt über Diversität, Klima und Teilhabe – zweifellos wichtige Themen, aber kaum relevant für Menschen, die von Lohn zu Lohn leben.
Die traditionelle Stammklientel der SPD kommt in politischen Debatten kaum noch vor. Ihre Lebenswirklichkeit ist der Partei offenbar fremd geworden.
Warum jede Geschichte einen Schurken braucht
In dieser ideologischen Leere hilft der Blick in die Welt des Storytellings. Jede starke Geschichte braucht einen Schurken – eine Figur, gegen die sich Protagonisten formieren, die Konflikte zuspitzt und klare Lager schafft. Dieses Prinzip ist nicht nur dramaturgisch wirksam, sondern auch psychologisch.
Über Veit Etzold
Prof. Dr. Veit Etzold ist Vortragsredner, CEO-Coach und Berater für Strategie und Storytelling. Mit 20 Jahren Erfahrung in Banking, Versicherung, Strategieberatung und Executive Education sowie als 12-facher Spiegel-Bestsellerautor verbindet er Business- und Bestseller-Kompetenz. Als Professor für Marketing/Vertrieb und Direktor des Competence Centers für Neuromarketing an der Hochschule Aalen ist er außerdem Keynote Speaker zum Thema Storytelling.
Menschen fühlen sich stärker verbunden, wenn sie einen gemeinsamen Gegner haben. Schurken verbünden. Eine alte Weisheit des Krieges ist daher auch: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.
Beispiele dafür gibt es genug: Die Vereinigten Staaten von Amerika entstanden aus der gemeinsamen Opposition gegen das British Empire – ein klarer Feind vereinte unterschiedliche Interessen.
Ganz anders die Europäische Union: Sie gründete sich aus einem gemeinsamen Ideal, nicht gegen einen Gegner – was bis heute zu Orientierungslosigkeit und mangelnder Geschlossenheit führt.
Auch in der Wirtschaft lässt sich dieses Muster beobachten: Die Unternehmensberatung BCG inszeniert sich in den Nullejahren als kreative, moderne Alternative zur großen und als technokratisch wahrgenommenen Beratung McKinsey. Steve Jobs positionierte Apple als kleinen Rebellen gegen die Übermacht von IBM und Microsoft.
Wer einen Gegenspieler hat, kann sich klarer definieren – und schafft emotionale Bindung. Und wer keinen Feind hat, sollte sich für die Positionierung einen schaffen. Auf Freunde kann man verzichten. Auf Parteifreunde ohnehin.
Die AfD als unfreiwilliger Rettungsanker
Die SPD hat dieses Prinzip längst verinnerlicht – wenn auch eher aus Versehen als aus Strategie. Die AfD dient ihr als politischer Schurke, gegen den man sich moralisch abgrenzen und symbolisch positionieren kann. Wenn man als SPD schon nichts mehr ist, dann ist man immerhin noch „Bollwerk gegen Rechts“.
Oder, in Anbetracht der 16 Prozent eher „Bollwerkchen“. Die Feindschaft zur AfD erzeugt Profil, wo Inhalte fehlen. Es ist diese Gegenüberstellung, die zumindest noch ein „Wir“ innerhalb der SPD erzeugt.
Der politische Gegner wird zum letzten verbliebenen Element der Selbstvergewisserung. Die auf dem Parteitag schon wieder formulierte Forderung, die AfD zu verbieten, ist daher ein gefährliches Spiel. Denn fällt dieses Feindbild weg, verliert die SPD zugleich ihren letzten klaren Orientierungspunkt.
Ohne Gegenspieler keine Identität?
Die SPD steht exemplarisch für ein Problem, das viele Organisationen betrifft – in der Politik wie in der Wirtschaft. Wer sich ausschließlich über Abgrenzung definiert, verliert den Blick für eigene Stärken. Ein Feindbild kann kurzfristig zusammenschweißen, ersetzt aber keine Vision.
Für Unternehmen wie auch für die SPD gilt deshalb: Ein klarer Gegner kann helfen, schärfer zu erscheinen – aber nur wer eigene Inhalte, echte Nähe zur Zielgruppe und ein zukunftsfähiges Angebot hat, wird auf Dauer bestehen.
Die SPD muss sich daher fragen, ob sie ohne AfD überhaupt noch etwas zu sagen hat. Und ob sie dem Schurken und Feind AfD nicht dankbar sein sollte, dass sie dadurch immerhin noch ein letztes Stückchen Differenzierung und Einzigartigkeit hat.
Darum steht auch in der Bibel: „Liebe deine Feinde.“ Von „Verbiete deine Feinde“ steht dort nicht.
Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.