„Wir tun genau das, was Putin von uns will“: US-Experte kritisiert Zögern bei Nato-Aufnahme der Ukraine

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Kurz vor dem Ukraine-Friedensgipfel debattiert die Welt über die militärische Unterstützung. Ein Ex-Nato-Botschafter der USA will die Ukraine schnell in die Allianz aufnehmen.

Die Ukraine-Friedenskonferenz am Wochenende wird vorerst keinen Frieden bringen – sondern zunächst nur einzelne Aspekte aus dem Friedensplan von Präsident Wolodymyr Selenskyj aufnehmen. Beobachter gehen davon aus, dass die beteiligten Staaten eine Erklärung unterzeichnen werden, die sich auf die UNO-Charta und die Unverletzlichkeit von Grenzen beruft. Auch soll es um Gefangenenaustausch und eine Rückholung der Tausenden aus den besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland entführten Kindern gehen.

Parallel läuft die Strategie-Debatte um die größtmögliche militärische Unterstützung der Ukraine weiter. Deutschland etwa wird ein zusätzliches Patriot-System zur Luftabwehr schicken. Doch so manchem Experten ist das, was getan wird, nicht genug. Einer davon ist Kurt Volker, ehemaliger Nato-Botschafter der USA und heute Experte für Transatlantische Verteidigung und Sicherheit am Center for European Policy Analysis (CEPA) in Washington. Er hält Ängste vor Wladimir Putin für irrational und befürwortet im Gespräch mit IPPEN.MEDIA eine rasche Aufnahme der Ukraine in die Nato.

Die Beistandsgarantie nach Artikel 5 des Nato-Vertrages sei kein Grund, das angegriffene Land nicht schon während des Krieges aufzunehmen, sagt Volker. Die nächste Gelegenheit für eine Einladung wird der Nato-Gipfel Mitte Juli in Washington sein. Dort feiert die Allianz ihr 75-jähriges Bestehen.

Ukraine in der Nato? „Artikel 5 besagt nicht, dass die Nato Truppen an die Front senden muss“

Sie haben kürzlich in einer Studie geschrieben, dass die Nato die Ukraine auch während des Krieges aufnehmen könne – ohne dass dies einen Dritten Weltkrieg auslösen würde. Sie empfehlen eine Einladung an Kiew sogar. Viele Nato-Mitglieder fürchten, dass eine Aufnahme der Ukraine aufgrund von Artikel 5 automatisch den Kriegseintritt der Allianz bedeuten würde. Wie ließe sich das umgehen?

Artikel 5 sagt ja nur, dass es im Falle eines Angriffs auf ein Nato-Mitglied eine Art kollektive Reaktion geben muss. Aber der Vertrag legt nicht fest, wie diese kollektive Reaktion aussehen soll. Er besagt nicht, dass die Nato-Mitglieder Truppen an die Front entsenden müssen, obwohl dies durchaus möglich ist. Nötig wären Nato-Bodentruppen etwa, wenn die drei baltischen Staaten mit ihren kleinen Territorien und ihrer geringen Bevölkerung von Russland angegriffen würden. In der Ukraine, einem riesigen Land mit einer großen Bevölkerung gibt es dagegen mehrere Optionen ohne den unmittelbaren Einsatz von Nato-Bodentruppen. Wir sollten mit der Ukraine darüber sprechen, welche Möglichkeiten der Unterstützung es unter Artikel 5 in diesem Krieg gibt. Dazu gehören im Prinzip auch schon unsere großen Lieferungen von Ausrüstung und Trainingsmaßnahmen.

Wie sollte die Nato also vorgehen?

Wir müssen weiter die notwendige militärische Aufrüstung finanzieren, damit wir die Ukraine in eine starke Position bringen. Dann sollten wir sie in die Nato aufnehmen. Putin würde dadurch das Signal bekommen: Er kommt nicht länger davon. Doch wir neigen dazu zu sagen, dass wir beim Thema Nato-Beitritt gar nichts tun können, weil das einen globalen Krieg bedeuten würde. Das ist ein Signal an Putin, dass er so lange weitermachen kann, wie er will.

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, spricht vor den Medien auf dem des NATO-Gipfel in Vilnius
Wolodymyr Selenskyj auf dem Nato-Gipfel in Vilnius 2023: Damals bekam die Ukraine keine Einladung. Der ehemalige Nato-Botschafter der USA Kurt Volker fordert eine Einladung auf dem diesjährigen Gipfel im Juli. © Celestino Arce Lavin/Zuma Wire/Imago

Russlands Armee wird überschätzt: „Schlechte Militärführung ohne Taktik“

Wie schätzen Sie Russlands Armee militärisch ein?

Die Front ist eingefroren, und die Russen kommen nicht maßgeblich voran. Dafür gibt es mehrere Gründe: Eine schlechte Militärführung ohne gute Taktik, eine Historie der Korruption im Militär, Personalmangel. Die gute Ausrüstung ist bereits zerstört, und die neue Produktion läuft nicht so schnell hoch wie erhofft. Daher muss Russland Waffen aus Nordkorea und Iran einkaufen. Die Streitkräfte sind generell in einem ziemlich schlechten Zustand.

Die ukrainische Armee wird viel besser geführt und ist besser ausgerüstet, nur nicht in ausreichendem Umfang. Deshalb hält sie bislang stand. Wir alle überschätzen Russland immer noch.

Was folgern Sie daraus?

Wir sollten besser verstehen, dass wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen und unsere eigenen Entscheidungen treffen müssen. Wir können einfach nicht erwarten, dass es reicht, ein paar schöne Worte zu sagen – und dann läuft es alles so, wie wir es möchten. Das ist nicht die Art und Weise, wie die Dinge funktionieren. Wir müssen aktiv werden, Risiken eingehen und entschlossener sein. Und das ist etwas, was wir nur widerwillig tun.

Der ehemalige Nato-Botschafter der USA Kurt Volker in Tallinn
Kurt Volker, ehemaliger Nato-Botschafter der USA © Konstantin Sednev / Postimees Tallinn Harjumaa Est / Imago

Ex-Nato-Botschafter: Angst vor Russland ist unbegründet

Viele Politiker im Westen warnen immer wieder vor einer Eskalation, vor dem Dritten Weltkrieg oder einem Nuklearschlag durch Russland. In Deutschland fürchten sich viele Menschen davor. Ist diese Angst begründet?

Es gibt diese Angst. Ist sie rational? Nein. In den USA sind Präsident Joe Biden, CIA-Chef William Burns oder Sicherheitsberater Jake Sullivan generell besorgt, dass Putin einen Atomschlag ausführen könnte. Aber das ist völlig fehlgeleitet. Putin droht gerade deshalb, weil er in Wirklichkeit gar nichts tun kann. Aber was er sagt, schreckt uns ab, also hat er Erfolg. Wir tun genau das, was er von uns will.

Indem wir immer wieder zögern, wie zuletzt beim Beschuss russischen Gebiets?

Genau. Als es kürzlich darum ging, ob wir es erlauben, dass die Ukraine mit den von uns gelieferten Waffen auch russisches Territorium beschießt, da hieß es schließlich: ‚Ja, aber nur ein bisschen, nicht zuviel.‘ Dabei setzt das Völkerrecht hier gar keine Grenzen. Die Ukraine hat das Recht zurückzuschlagen, auch auf dem Territorium des Angreifers. Wir sind unglaublich unentschlossen und haben keinen Bezug zur Realität.

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