Die Ukraine darf jetzt nach Russland hineinfeuern. Aber nur ein Stückchen weit. Das spielt Putin weiterhin in die Karten, klagen Experten.
Charkiw – „Ich habe in der Taktik-Ausbildung gelernt, Gebiete, die ich gewinne, die muss ich auch halten können“, sagt Janet Watson. Sie ist Hauptmann im Redaktionsteam der Bundeswehr und fragte kürzlich im Podcast Nachgefragt, inwieweit Russland im Raum Charkiw beziehungsweise überhaupt dazu in der Lage sei. Ihr Interview-Partner bejahte das – Wladimir Putin schiebe hinter der Front die Nationalgarde nach, um die besetzten Gebiete zu halten und versuche die Verwaltung zu russifizieren, beispielsweise dadurch, Russisch als Amtssprache durchzusetzen, sagte Generalmajor Christian Freuding vom Sonderstab der Ukraine im Verteidigungsministerium.
Allerdings gleitet den Russen möglicherweise das „Momentum“, also die Gunst der Stunde langsam aus der Hand, wie das Institute for the Study of War (ISW) behauptet: Durch die Erlaubnis des Westens, westliche Waffen tiefer nach Russland hineinwirken zu lassen, habe Russland wohl 16 Prozent seines als „unantastbar“ geltenden Territoriums an die potenzielle Kontrolle durch die Ukraine verloren.
USA sind sich sicher: Lockerungen der Beschränkungen der Ukraine militärisch sinnvoll
Durch die Freigabe der USA, Ziele außerhalb des besetzten ukrainischen Territoriums zu beschießen, gingen die Analysten des ISW davon aus, dass ukrainische Streitkräfte mit Mehrfachraketenwerfern in den russischen Verwaltungsbezirken Belgorod, Kursk und Brjansk potenziell jedes legitime russische Militärziel innerhalb der Reichweite ihrer HIMARS-Systeme angreifen könnten. Inwieweit die Ukraine jedoch die Genehmigung für derartige Angriffe hat, ist offen, schreibt die Kyiv Post. „Ein hochrangiger Offizieller des US-Militärs hatte den Parlamentariern Anfang Mai erklärt, dass eine Lockerung der Beschränkungen für den Einsatz amerikanischer Waffen durch die Ukraine auf russischem Territorium ‚militärisch sinnvoll‘ sei, so zwei Teilnehmer des Treffens“, berichtet das Magazin Politico.
„Es ist ein Katz- und Maus-Spiel - ein Wettlauf gegen die Zeit. Möchte man daher ein durchlangendes Ergebnis erzielen, ist es besser, ohne Ankündigung massiv anzugreifen – und nicht zu kleckern.“
Laut der Washington Post ermächtigt US-Präsident Joe Biden demnach ukrainische Kommandeure, „‚gegen russische Streitkräfte zurückzuschlagen, die sie angreifen oder einen Angriff vorbereiten‘ in und um Charkiw, nahe der Grenze im Nordosten der Ukraine“ wie die Post schreibt. Das hieße, die Ukraine dürfe zurückschießen, wenn sie angegriffen würde oder Militäranlagen kurz hinter der Grenze auszuschalten gedenke, formuliert ergänzend die Kyiv Post. Ende Mai hatte das ISW noch moniert, Russland genieße durch die zurückhaltende Politik des Westens weiterhin einen gewissen Schutzraum, „in dem das russische Militär seine Streitkräfte abschirmen kann, bevor sie Charkiw nahe genug kommen oder in andere Teile der Ukraine eindringen“.
Achtungserfolg der Ukraine: Langstreckendrohnen beschädigen Putins Prestige-Bomber
Auch wenn der ukrainischen Artillerie und Luftwaffe weiterhin untersagt sei, russische Einheiten und Stellungen oder Depots ohne direkten operativen Einfluss anzugreifen, könnte Putins Profit inzwischen geschmälert sein: Die Flächenreduzierung dieses Schutzraums beziffert das ISW auf bis zu 16 Prozent. Das ISW macht allerdings keine genauen Angaben zum Hintergrund der Prozentzahlen, insofern dürften die Bezugsgrößen die Verwaltungsbezirke Belgorod, Kursk und Brjansk sein, allerdings fehlt eine definitive Angabe zur maximal angenommenen Größe des russischen Schutzraumes.
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Immerhin ist der Ukraine dieser Tage ein Achtungserfolg über eine Distanz von fast 600 Kilometern in russischem Kernland gelungen: Die Verteidiger hatten einen Flugplatz beschossen. Auf dem Flugplatz Achtubinsk im Verwaltungsbezirk Astrachan hatten Russland Tarnkappenbomber Suchoi Su-57 geparkt. Auf Grundlage von Satellitenbildern scheint einer der im Freien stehenden Bomber zumindest leicht beschädigt worden zu sein – wenn nicht sogar ganz außer Gefecht gesetzt. Allerdings war der Angriff mittels Langstreckendrohnen geführt worden, also ohne westliche Waffen. Die Tarnkappenbomber sind beispielsweise die Trägersysteme für Gleitbomben, die den infanteristischen Kräften den Boden bereiten. Und sie sind Putins Prestige-Bomber.
Russlands Raumgewinn ist beachtlich: 750 Quadratkilometer – die Fläche der Stadt Hamburg
Die russische Infanterie sei auch seit Mai unverändert in der Initiative, sagte Christian Freuding in Nachgefragt am 7. Juni. Der Bundeswehr-General berichtet von Geländegewinnen in diesem Jahr in einer Tiefe von bis zu 17 Kilometern in die Ukraine hinein – eben in den Räumen Charkiw und auch Belgorod, die die Ukraine jetzt bedingt unter ihr Feuer nehmen darf. Freuding spricht von einem Raumgewinn der Russen seit Jahresbeginn von bis zu 750 Quadratkilometern – „um das mal ins Verhältnis zu setzen: das ist in etwa das Stadtgebiet Hamburgs“, wie er sagt. Allein um Charkiw herum hätten sich die Russen seinen Informationen zufolge rund 200 Quadratkilometer einverleibt.
Der Sinneswandel der westlichen Mächte sei der veränderten Lage geschuldet, ergänzt Freuding. In Nachgefragt berichtet er beispielsweise von Hubschraubern, die auf der Grenzlinie zur Ukraine in der Luft gestanden und in die Ukraine hineingewirkt hätten, ohne dass die Verteidiger sich hätten wehren dürfen. Oder von Artilleriestellungen auf russischem Territorium, die über Tage Zeit gehabt hätten, sich unbehelligt auf ukrainische Ziele einzuschießen. „Das ist militärisch und moralisch in keiner Weise vertretbar“, sagt der Stabsoffizier. Völkerrechtlich legitime Ziele auf russischem Territorium oder im russischen Luftraum seien jetzt also zum Beschuss freigegeben.
Reichweite der ukrainischen Feuerkraft: 16 Prozent des „unantastbaren“ russischen Schutzraumes
Ob die Reichweite der Ukraine auf jetzt 16 Prozent des möglichen erreichbaren russischen Bodens letztendlich Bedeutung bekommt, ist ungewiss. Auch Markus Reisner sind inzwischen Zweifel gekommen, der Oberst des österreichischen Bundesheeres hat auf der österreichischen Armee-Website die Wirksamkeit die Ausweitung der Feuerkraft fast schon als Akt der Verzweiflung dargestellt: „Die Russen bestimmen, wo sie angreifen – und die Ukraine ist gezwungen, zu reagieren. Diesen Teufelskreis muss die Ukraine unbedingt durchbrechen, sonst werden deren Kräfte stetig abgenützt. Aus diesem Grund folgt nun der Versuch, die Angriffe massiv auf russisches Territorium auszuweiten.“
Immerhin betrachtet er die Wirkung westlicher Waffen als sehr effizient – allerdings genauso die Fähigkeit der Russen, diese Waffen in ihrer Wirkung zu stören. Excalibur-Granaten oder HIMARS-Raketen seien inzwischen fast wirkungslos, weil den Russen gelänge, ihre GPS-Sender zu stören, und die Geschosse ihre Ziele zum Teil deutlich verfehlten. Laut einem Bericht der New York Times hätten die USA die Lieferung der Excalibur-Granaten eingestellt, weil die Trefferquote in erschreckendem Ausmaß gesunken sei.
Analysten hätten laut der NYT herausgefunden, „dass der Anteil der bestätigten erfolgreichen Angriffe im Zeitraum von Januar bis August 2023 von einem Höchststand von 55 Prozent auf einen Tiefststand von sieben Prozent im Juli und sechs Prozent im August sank, den Monaten, in denen die schleppende Sommer-Gegenoffensive der Ukraine ihren Höhepunkt erreichte. Zu einem bestimmten Zeitpunkt traf nur noch eine von 19 Excalibur-Granaten ihr Ziel“, schreibt die NYT über die Analyse.
Auch der Österreicher Reisner sieht in den 16 Prozent noch keinen Silberstreif am Horizont – genauso wenig wie die Kyiv Post, die den US-Präsidenten Joe Biden beinahe frontal angeht: „Die US-Politik schützt noch immer den größten Teil des operativen und des tiefen Hinterlands Russlands, und die US-Politik verbietet der Ukraine den Einsatz von ATACMS irgendwo in Russland“, schreibt sie. Reisner sieht ebenfalls Russland nach wie vor im Vorteil – auch wenn die russische Offensive aktuell offenbar an Dynamik eingebüßt hat: Russland habe Zeit, sich auf kommende Angriffe einzustellen: „Es ist ein Katz- und Maus-Spiel – ein Wettlauf gegen die Zeit. Möchte man daher ein durchschlagendes Ergebnis erzielen, ist es besser, ohne Ankündigung massiv anzugreifen – und nicht zu kleckern.“