Kindheit am Obersalzberg: Die Nazi-Gräuel sollten schnell vergessen werden
Wowo Habdank liest „Bergheim“ im Kunstturm. Das Buch handelt vom Aufwachsen als Sohn eines Nazi-Kollaborateurs im Schatten des Obersalzbergs.
Nachdem seine Mutter die Nazi-Vergangenheit des Vaters geleugnet hatte, tanzt der junge Franz Berger zur laut aufgedrehten Hippie-Hymne. Scott McKenzies „San Francisco“ hallte auch durch den Kunstturm. Außer einer Leselampe war der Zuschauerraum finster. Die Stimmung in einigen Momenten auch. Die musikalische Aufforderung aus dem Kassettenrekorder, Blumen im Haar zu tragen, war ein krasser Kontrast der Emotionen – und passte damit hervorragend zur Lesung von „Bergheim“, dem Roman von Fritz Wagner, der darin seine Kindheit im Schatten des Obersalzbergs aufarbeitet. Schauspieler Wowo Habdank las einige Passagen aus dem Werk des Ambachers.
Im Buch geht‘s nicht um Wagner, sondern um Franz Berger. Gewisse Ähnlichkeiten, etwa beim Namen, sind Absicht: Wagner hatte vor der Veröffentlichung gegenüber unserer Zeitung erzählt, dass die Romanfigur teilweise autobiografische Züge trage. Franz wächst in der Nähe von Berchtesgaden auf, in landwirtschaftlichem Umfeld, und eigentlich ist das alles ganz idyllisch. Das Buch streift mehr oder weniger harmlose Allerwelts-Erlebnisse wie die Angst vor dem ersten Schultag. Es erzählt vom Aufwachsen ohne eigenen Fernseher und den Fernsehnachmittagen auf dem merkwürdigen Nachbarhof. Es erzählt aber auch vom Fernsehbesitzer, der immer mal wieder über den Russlandfeldzug flucht und seine Weltkriegsnarben zeigt. Und es erzählt von dem Moment, in dem die Postkartenidylle in sich zusammenbricht. Franz ist der Sohn eines genialen Ingenieurs – und erfährt erst lange nach dessen Tod, dass sich der Vater mit den Nazis gemein gemacht hatte und an den Bauarbeiten am Obersalzberg beteiligt war.
Wowo Habdank liest Bergheim: Ein Buch zwischen Lassie-Kindheit und Nazi-Vergangenheit
Der Münsinger Wowo Habdank las aus „Bergheim“. Er brauchte nicht viel, um die passende Stimmung zu schaffen. Einen Kassettenrekorder, eine Tischlampe, das Buch und seine Stimme. Letztere hallte durch den hohen Raum, als er den zentralen Monolog rezitierte. In dem erzählt Kaspar, eine Romanfigur, dem jugendlichen Franz, was geschehen ist.
Alle Nachrichten aus Wolfratshausen lesen Sie hier.
Am Obersalzberg, in Deutschland, in der ganzen NS-Zeit. Von Todesfabriken erzählte er und von „den Juden Europas, die in Viehwaggons gestopft wurden“ auf ihrer letzten Fahrt ins Konzentrationslager. „Das haben sie buchstäblich erst über den Kamin wieder verlassen.“
Schockierende Entdeckungen in Nachkriegs-Deutschland: Fritz Wagner erinnert sich in Roman
Nach diesem Gespräch zwischen Kaspar und Franz geben viele Dinge einen Sinn, die die junge Romanfigur zuvor aufgeschnappt hatte. Dass man den jüdischen Regisseur „beim Hitler vergast“ und wieder andere „ins Arbeitslager gestopft“ hätte, wie sein Nachbar beim Fernsehen immer wieder schimpfte. Der Monolog löst auch das Rätsel, was auf den Bildern zu sehen war, die Franz und ein Kumpel fanden. Die brennenden Dörfer und die Reihe von nackten Frauen vor einer breiten Grube ergaben zuvor keinen Sinn. Sie zeigten eine Massenexekution im Konzentrationslager und Kriegsverbrechen der Wehrmacht. In der Schule hatte Franz das nicht gelernt. „Die sagen Euch gar nichts“, brüllte Habdank in der Rolle des Kaspar in den Kunstturm.
Meine news
(Unser Wolfratshausen-Geretsried-Newsletter informiert Sie regelmäßig über alle wichtigen Geschichten aus Ihrer Region. Melden Sie sich hier an.)
Eine Schlussszene der Lesung ist Franz‘ Rauswurf aus dem Gymnasium, das ihm so gar nichts erzählte von der düsteren Vergangenheit des Orts, des Vaters und des Landes. Er hatte ihn provoziert und der Schule in einem Aufsatz vorgehalten, was sie ihm verschwiegen hatte.
Was ist aus dem Obersalzberg geworden? Heute wird dort erinnert
Heute wird an die NS-Gräuel erinnert. Am Obersalzberg wurde ein Dokumentationszentrum geschaffen, das die Bauten und das 50 Kilometer umfassende Tunnelnetz des Bergs erklärt – er sollte Rückzugsort für Nazi-Größen werden. An diesem Ort, so beschreibt es im Buch ein Lehrer, „haben die größten Verbrechen der Menschheit ihren Ursprung“.