Gastbeitrag von Gabor Steingart - Nach Festnahme von Erdogans Rivalen - Was Sie über die Situation wissen müssen

Die Welt blickt heute mit Nervosität nach Istanbul. Im Gefolge der Verhaftung des Bürgermeisters der Stadt, Ekrem İmamoğlu, wird das Land von teils gewalttätigen Protesten heimgesucht. Die Türkei ist innerhalb der Nato der zweitgrößte Truppensteller. Hier die fünf wichtigsten Fakten zur Situation vor Ort:

Türkei: #1 Was genau ist passiert? 

Der ehemalige Bauunternehmer Ekrem İmamoğlu wurde nach seiner Festnahme vergangenen Mittwoch von seinem Amt als Bürgermeister von Istanbul suspendiert. Kurz zuvor hatte ein Istanbuler Gericht nach Aufforderung durch die Staatsanwaltschaft Untersuchungshaft für ihn angeordnet. 

Der Vorwurf: Korruption und Vetternwirtschaft. Die Festnahme des wichtigsten innenpolitischen Rivalen von Erdoğan hat landesweite Proteste ausgelöst.

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#2 Wer ist Ekrem İmamoğlu?

İmamoğlu wurde 1970 in der Provinz Trabzon im Nordosten des Landes geboren. Nach seiner Schulzeit studierte er Betriebswirtschaftslehre in Zypern und Istanbul.

Nach seinem Studium betrieb İmamoğlu zunächst ein Restaurant in Istanbul und stieg in das Bauunternehmen İmamoğlu İnşaat seiner Familie ein. Seit 2019 amtiert der dreifache Vater als Bürgermeister von Istanbul, zunächst gewählt mit einem knappen Vorsprung, woraufhin die Wahl wiederholt werden musste. Das Ergebnis verbesserte sich. Erdoğans AKP verlor also zweimal. 

Er ist Mitglied der Republikanischen Volkspartei (CHP), der wichtigsten Oppositionspartei in der Türkei. Gestern wählte die CHP İmamoğlu in Abwesenheit als ihren Präsidentschaftskandidaten für die Wahl 2028. In den Meinungsumfragen liegt er vor Erdoğan. 

Ekrem İmamoğlu glaubt, dass das, wofür er eintritt, nicht durch Erdoğan verhindert werden könne:

„Er versucht mich zu beseitigen. Selbst wenn einem Ekrem was passiert, gibt es Millionen von Ekrems in diesem Land. Millionen, zehn Millionen, die dich nicht wollen.“

#3 Wie es jetzt weitergeht? 

Korruptionsverdacht: Wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu mitteilte, wurde die Ermittlung gegen İmamoğlu wegen des Verdachts folgender Straftaten eingeleitet:

„Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung“, „Erpressung“, „Bestechung“, „schwerer Betrug“, „unrechtmäßige Beschaffung personenbezogener Daten“ und „Ausschreibungsmanipulation“.

Im Rahmen eines Gerichtsprozesses müssen für diese Behauptungen Belege vorgelegt und Zeugen geladen werden. Experten rechnen mit einem mehrjährigen Verfahren. Zudem wurde İmamoğlu am Dienstag der Abschluss an der Universität in Istanbul aberkannt. Ein Hochschulabschluss ist Voraussetzung für eine Präsidentschaftskandidatur in der Türkei. 

#4 Was ist seine Beziehung zu Erdoğan? 

Ekrem İmamoğlu wird als potenzieller Kandidat für das Amt des türkischen Präsidenten und damit als Nachfolger von Erdoğan gehandelt. Dass die zwei Männer verfeindet sind, zeigte sich bei der Bürgermeisterwahl in Istanbul 2019.

İmamoğlus Sieg war ein symbolischer Rückschlag für Erdoğan und die AKP, da Istanbul jahrzehntelang unter der Kontrolle der AKP und ihrer Vorgängerparteien stand. Erdoğan selbst begann seine politische Karriere als Bürgermeister von Istanbul (1994–1998). Die Annullierung und Wiederholung der Wahl wurde als Versuch gewertet, den Wahlsieg des Oppositionspolitikers zu verhindern.

#5 Wie reagieren die Türken?

Seit Mittwoch demonstrieren Hunderttausende. Der Vorsitzende der CHP, Özgür Özel, sprach in Istanbul – dem Zentrum der Proteste – von „mehr als einer halben Million“ Teilnehmern. 

Laut einer Zählung der Nachrichtenagentur AFP gab es bislang in 55 der 81 türkischen Provinzen Demonstrationen. Gummigeschosse, Pfefferspray und Wasserwerfer kamen seitens des Staates zum Einsatz. Innenminister Ali Yerlikaya gibt sich unversöhnlich: 

„Wer Chaos und Provokation sucht, wird nicht toleriert werden.“

Bislang wurden mehr als 340 Personen festgenommen.

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Fazit: Die Empörung in Deutschland ist verständlich, aber vermutlich voreilig. Im Tränengasnebel können wir nicht feststellen, ob es sich um einen Machtmissbrauch durch Gegnerbeseitigung handelt oder um ein rechtsstaatliches Verfahren, das Korruption bekämpfen muss. Aufklärung folgt – hoffentlich.