Schockierende Missbrauchs-Studie: Pfarrer fordern Aufarbeitung - „Weiß, wie solche Menschen leiden.“

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Unter dem Dach der Kirche erlitten Tausende Gläubige Schäden, an denen die meisten ihr Leben lang tragen. Das gilt für die katholische wie die evangelische Konfession. © dpa

Das Missbrauchsgutachten rüttelt die evangelische Kirche auf. Pfarrer Florian Gruber fürchtet einen Vertrauensverlust bei der Arbeit vor Ort.

Bad Tölz-Wolfratshausen – Die Enthüllungen zum massenhaften Missbrauch in der evangelischen Kirche haben die Kirche ziemlich durchgerüttelt. „Da bleibt einem der Mund offen stehen“, findet der Wolfratshauser Pfarrer Florian Gruber. „Beschämend“, nennt das Ganze sein Tölzer Kollege Dr. Urs Espeel. Jeder, mit dem der Geistliche am Freitag gesprochen hat, „hat mich auf das Thema angeredet“. Dabei hat nicht nur das enorme Ausmaß der aktuellen Studie schockiert. Auch der Umstand, dass erst jetzt – viele Jahre nachdem das Thema in der katholischen Kirche aufkam – ein Gutachten veröffentlicht wird, dass sich der Thematik annimmt, beschäftigt den Tölzer Pfarrer. „Es ist wichtig, dass sich die Kirche nicht wegduckt und dass wir jeden einzelnen Fall ehrlich aufarbeiten.“ Er habe Verständnis für jeden Gläubigen, „der erschrocken ist, der frustriert ist“. Espeel selbst hat sich bei dem Gedanken ertappt, das Verhalten der Kirchenführung „tief, tief enttäuschend“ zu finden.

Was für ihn besonders schwer wiegt: In seiner Arbeit als Seelsorger hat er auch mit Opfern von Machtmissbrauch, Gewalt und sexuellen Übergriffen zu tun. „Ich weiß, wie sehr solche Menschen leiden.“ Dass diesen über Jahre eine Aufarbeitung verwehrt wurde, „das muss sie sehr verletzen“.

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„Leider gibt es sowas in jeder Institution“: Kirchenmitglieder sprechen über Missbrauchsgutachten

Liesel Gust ist seit zwölf Jahren Vertrauensfrau im Kochler Kirchenvorstand. „Mit mir sprechen viele Gemeindemitglieder über Probleme“, sagt sie. Über eins noch nie: Missbrauchserlebnisse in der evangelischen Kirche. In ihrer früheren Arbeit als Erzieherin in einem kirchlichen Kindergarten hatte sie aber kritische Momente beobachtet. „Als junge Frau habe ich Züchtigungen mitbekommen“, erinnert sich die 71-Jährige. „Aber das habe ich nicht öffentlich an die große Glocke gehängt.“ Angesprochen hat sie es dennoch und damit dafür gesorgt, dass in der Einrichtung kein Kind mehr geschlagen wird. „Das war mir sehr wichtig, schon immer.“ Dass es in der evangelischen Kirche in Deutschland – über 19 Millionen Menschen sind Mitglied – zu Fällen sexualisierter Gewalt gekommen ist, hat Gust nicht überrascht. „Leider gibt es so etwas in jeder Institution und in vielen Bereichen.“ Ihr ist wichtig, dass die Vorkommnisse aufgearbeitet werden – und vor allem Maßnahmen ergriffen werden, dass es gar nicht mehr zu solchen kommen kann.

Prävention ist wichtig: „Braucht einen Verhaltenskodex“

Prävention ist dem Wolfratshauser Florian Gruber ebenfalls ein Anliegen. „Es wird Aufklärungs- und Präventionsprogramme in den einzelnen Gemeinden geben“, weiß der Pfarrer. „Und es braucht einen Verhaltenskodex, der überall gilt und dem sich alle verpflichten.“ In der Vergangenheit sei es zu oft Tätern gelungen, sich „in solche Institutionen einzuschleichen, die Menschen helfen“. Einfach deshalb, weil sie über dieses Ehrenamt oder diesen Beruf an potenzielle Opfer kommen. „Wir müssen Strukturen schaffen, die das zuverlässiger verhindern“, betont Gruber. Wichtig seien deshalb auch Anlaufstellen für Opfer – „unabhängige Stellen“, wie Gruber betont – um schnell reagieren zu können. Er ist überzeugt davon, dass der absolute Großteil der aktiven Kirchenmitglieder Gutes im Sinne hat. „Ich kann nur hoffen, dass durch diese Zahlen und Geschehnisse nicht das ganze Vertrauen vor Ort verloren geht. Da sind nämlich viele Leute aktiv, die gute Arbeit machen und sich wirklich um Menschen kümmern.“

Auch Gruber selbst möchte sein Vertrauen zu den Menschen behalten: „Ich werde auch weiterhin, wenn es nötig ist, mit Menschen unter vier Augen sprechen, ohne Angst zu haben, dass mir jemand daraus einen Strick dreht.“

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