Gegen Putin: Ukraine will nach ATACMS neue US-Präzisionsrakete
Ganz neue Raketen oder einfach mehr von den bisherigen? Die Ukraine verlangt Verstärkung, und die USA zögern erneut. Allerdings haben sie eine neue Waffe.
Kiew – „PrSM ist dafür ausgelegt, kritische und zeitkritische Flächen- und Punktziele in einer Entfernung von über 400 Kilometern zu neutralisieren, zu unterdrücken und zu zerstören“, sagte Darrell Ames. Gegenüber dem US-Online-Magazin Army AL&T hatte der Pressesprecher des US-Verteidigungsministeriums Mitte Juli angekündigt, die ATACMS-Raketen der US-Armee sukzessive zu ersetzen mit dem Precision Strike Missile-System. Offenbar weckt das neue Begehrlichkeiten: Das in der Ukraine beheimatete Magazin Defense Express behauptet jetzt, „die Ukraine könnte das perfekte Testgelände sein“, um sich mit stärkeren Raketen Wladimir Putins Gebietsansprüchen effektiv zu widersetzen.
„Die beiden größten Unterschiede zwischen den ATACMS (Army Tactical Missile System) und PrSM (Precision Strike Missile) sind heute die Reichweite und die Beladungsmenge“, führte Ames gegenüber Army AL&T weiter aus. Die Beladung beziehe sich auf die Anzahl der Raketen, die ein Abschussbehälter oder eine Kapsel aufnehmen könne, so das Magazin. „Beim PrSM ist die Beladungskapazität pro Kapsel verdoppelt und die Reichweite ist deutlich größer.“
Schlechte Nachricht für Putin: Offensichtlich hat die neue Waffe in den USA eine gute Figur gemacht
Tatsächlich hält sich unter Beobachtern die These, dass der Westen die Ukraine bisher dahingehend unterstützt hätte, den Krieg nicht zu verlieren, anstatt ihn zu gewinnen. Die verschiedenen Schlachtfelder im Ukraine-Krieg gelten für die einzelnen Akteure als Laborsituation – die Nato und die USA haben die Chance, Kriegsgerät auf seinen realen Gebrauchswert zu testen, bevor sie die Waffen für die ureigenen Interessen einsetzen müssten; und nutzen die Chance, sukzessive auf unbemannte Systeme oder auf raffinierte Raketen umzustellen, bevor Wladimir Putin Kraft geschöpft hat für den nächsten Schlag gegen die Welt.
„Darüber hinaus ist das größte Hindernis für die Ukraine der Mangel an ausgebildetem und einsatzbereitem Personal. Dies ist eine Herausforderung, die weder die USA noch ihre europäischen Verbündeten lösen können und der alle Waffen der Welt nicht beikommen werden.“
Offensichtlich hat die neue Waffe in den USA eine gute Figur gemacht. Rüstungsbauer Lockheed Martin verkündete vor wenigen Tagen per Pressemitteilung, das Unternehmen habe in Kooperation mit der US-Armee „einen weiteren Produktionsqualifikations-Flugtest für die Precision Strike Missile (PrSM) auf der White Sands Missile Range in New Mexico erfolgreich abgeschlossen“. Laut eigenen Angaben habe während des Tests ein HIMARS-Werfer (High Mobility Artillery Rocket System) zwei Präzisionsschlag-Raketen im Mittelstreckenflug auf eine Reihe von Zielen abgefeuert und damit die anhaltende Genauigkeit und Einsatzbereitschaft des Systems unter Beweis gestellt.
Wie das Unternehmen mitteilt, sei die neue Boden-Boden-Waffe nicht nur präziser, sondern auch erschwinglicher als die ATACMS, aber genauso kompatibel mit den Raketenwerfern M142 HIMARS und M270A2 MLRS (Multiple Launch Rocket System). Für die Ukraine wäre die neue Waffe der Strohhalm der Hoffnung, für Wladimir Putin möglicherweise die Lunte der Eskalation gegen die Nato. Aber genau dort macht die neue Waffe offenbar erstmal Ärger, wie das deutsche Militär-Blog hartpunkt Ende August berichtet hat.
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Zwist unter Nato-Partner wegen der PrSM: Norwegen hat von den USA eine Abfuhr erhalten
Offenbar hatte Norwegen Interesse an der neuen Rakete und einem weiteren Raketen-System geäußert., aber von den USA eine Abfuhr erhalten. hartpunkt-Autor Waldemar Geiger mutmaßt, dass womöglich sämtliche Produktionskapazitäten für beide Artillerieraketentypen bis auf Weiteres für die eigenen Streitkräfte benötigt werden. Sollte dies der tatsächliche Grund sein, müssten alle potenziellen Interessenten für diese modernen Varianten der Waffensysteme – darunter auch die Bundesrepublik Deutschland – warten, bis die US-Depots ausreichend aufgefüllt seien, wie er schreibt.
Insofern wird noch viel Zeit vergehen, bis die Ukraine die Waffe in die Hände bekommt. Möglicherweise auch erst nach Beendigung jeglicher Kampfhandlungen. Wie Jen Judson 2018 für Defense News berichtet hatte, wollte die US-Armee bereits 2023 die ersten Raketen an die Truppe übergeben und die Waffe einheitenübergreifend im Jahr 2027 eingesetzt wissen. Wahrscheinlich würde erst dann mit dem Export an die Nato-Partner begonnen werden könnten. Der Ukraine-Krieg hatte diese Planungen aber konterkariert.
Ballistische Raketen jedweder Reichweite ermöglichen Armeen, den Krieg auf Distanz zu führen und eigene Ressourcen zu schonen, beispielsweise die der Luftwaffe. Und mit den mobilen Werfern sind sie einerseits schwerer aufzuklären und andererseits schneller überall in Stellung zu bringen. Raketen sind überdies genügsamer in Wartung, Bedienung und Logistik; demgegenüber um so flexibeler in der Bestückung mit chemischen, biologischen, nuklearen oder lediglich konventionellen Sprengköpfen. Auch die ATACMS entstammen der Erkenntnis dass die Gefechtsräume tiefer werden und sich Gegner auf Hunderte Kilometer bekämpfen.
Russland muss zittern: Langstrecken-Angriffe könnten die Reaktionsfähigkeit Moskaus erheblich erschweren
Die Entwicklung von ATACMS entwuchs den Limitierungen der bisherigen Artillerie hinsichtlich Reichweite, Genauigkeit und Tödlichkeit, und insofern der Notwendigkeit der Entwicklung eines Raketensystems für hochpräzise Angriffe auf größere Entfernungen – ermöglicht durch Fortschritte in der Raketentechnologie, bei Lenk- und Antriebssystemen; ATACMS bot diese operative Anforderung und bedeutete für Kommandeure ein neues Werkzeug für den Kampf gegen weit entfernte und hochwertige Ziele, schreibt Cheryl Marino für das Army AL&T-Magazin.
Möglicherweise möchten die USA sogar ihre Restbestände an ATACMS jetzt kapitalisieren und ihre Depots mit modernen Waffen wieder auffüllen. „Sollten Angriffe auf ganz Russland zugelassen werden, könnte dies die Reaktionsfähigkeit Moskaus auf die Anforderungen des Gefechtsfelds erheblich erschweren“, schreibt aktuell die US-Nachrichtenagentur Associated Press (AP). Demnach liegt auf der Hand, dass Russland sowohl die Gleitbomben-Angriffe kaum noch würde durchführen können, weil die Bomber-Basen weiter ins Hinterland verlagert werden müssten; desweiteren wären Logistik-Hubs weniger sicher vor feindlichem Beschuss.
Ukraine-Krieg im Patt: ATACMS-Effekt ist trotz deren unbestreitbarer Erfolge ausgeblieben
Allerdings scheint die Zeit im Ukraine-Krieg weit fortgeschritten – ein ATACMS-Effekt ist trotz deren unbestreitbarer Erfolge ausgeblieben. Auch Markus Reisner sind inzwischen Zweifel gekommen, der Oberst des österreichischen Bundesheeres hat auf der österreichischen Armee-Website die Wirksamkeit die Ausweitung der Feuerkraft fast schon als Akt der Verzweiflung dargestellt: „Die Russen bestimmen, wo sie angreifen – und die Ukraine ist gezwungen, zu reagieren. Diesen Teufelskreis muss die Ukraine unbedingt durchbrechen, sonst werden deren Kräfte stetig abgenützt. Aus diesem Grund folgt nun der Versuch, die Angriffe massiv auf russisches Territorium auszuweiten.“
Aber auch das bleibt weiter strittig in den USA, wie Associated Press aktuell berichtet. „Die Entscheidung der USA werde den Verlauf des Krieges nicht ändern“, sagt Jennifer Kavanagh. Die Analystin des US-Thinktank Defense Priorities meint, „um Russland wirklich Kosten aufzuerlegen, bräuchte die Ukraine große Vorräte an ATACMS, die sie nicht hat und auch nicht erhalten wird, weil die Vorräte der USA begrenzt sind“, wie sie gegenüber AP sagte.
Russlands Vorteil: ATACMS-Treffer können keinen Schlussstrich unter den Ukraine-Krieg erzwingen
Insofern wird möglicherweise sogar daran gezweifelt, dass überhaupt weitere ATACMS an die Ukraine geliefert würden. Prinzipiell weiß niemand, ab der wievielten ATACMS oder aufgrund welcher Intensität des Beschusses unter russischen Befehlshabern ein Umdenken einsetzt und der Rückzug befohlen wird. Oberst Reisner wies kürzlich in einem Vortrag an der Universität der Bundeswehr in Hamburg darauf hin, dass die russischen Logistiker intensiver horteten als die westlichen Armeen. Innerhalb der Nato würde gebunkert, was gebraucht würde, die Russen dagegen lagern ein, was gerade verfügbar ist – notfalls in rauen Mengen – vor allem an Munition.
Insofern könnte ein einzelner ATACMS-Treffer ein Ausrufezeichen bedeuten, aber noch lange keinen Schlussstrich unter den Ukraine-Krieg erzwingen. Zudem müssten die neuen Raketen auch bedient werden können. Jennifer Kavanagh sieht in der knappen Ressource Personal den nächsten Hinderungsgrund für eine intensive Aufrüstung der Ukraine mit Raketen – von welcher Generation auch immer, wie sie gegenüber AP sagte.
„Darüber hinaus ist das größte Hindernis für die Ukraine der Mangel an ausgebildetem und einsatzbereitem Personal. Dies ist eine Herausforderung, die weder die USA noch ihre europäischen Verbündeten lösen können und der alle Waffen der Welt nicht beikommen werden.“