Verena Pausder im Interview - Statt über die Autobranche: Über diese deutschen Start-Ups sollten wir jetzt reden

FOCUS online: Wir sind das achtinnovativste Land der Welt, aber meistens konzentrieren wir uns auf das, was wir nicht können oder wo andere uns den Rang ablaufen. Sind die Deutschen einfach zu pessimistisch?

Verena Pausder: Ich erlebe jeden Tag, dass wir es noch können und besser sind als unser Ruf. Das ist doch auch eine Einstellungssache! Warum suchen wir unsere Schwächen und nörgeln lautstark darüber? Wir Deutsche reden zu wenig über das, was wir gut können – oft machen wir uns selbst unnötig schlecht. 

Die Start-Up-Branche ist dafür ein perfektes Beispiel?

Pausder: Letztes Jahr wurden 11 Prozent mehr Unternehmen gegründet als im Jahr zuvor, und es floss 17 Prozent mehr Kapital in die Branche. Wir haben inzwischen über 520.000 Arbeitsplätze, die in den vergangenen 20 Jahren aus dem Nichts durch Startups und Scaleups entstanden sind. Unsere Gründerinnen und Gründer haben Weltklasseforschung aus den Universitäten genommen und daraus Unternehmen gemacht, etwa „The Exploration Company“, die an Frachtkapseln arbeiten, um die ISS zu beliefern oder Marvel Fusion, die beantworten wollen, wo die Energie der Zukunft herkommt, oder Planqc, die Quantencomputing knacken wollen. Statt über die Schwächen der Automobilbranche zu reden, sollten wir darüber sprechen.

Was sind denn dann die deutschen Stärken?

Pausder: Die deutschen Stärken liegen in der Weltklasseforschung, der industriellen Basis, und unserem technischen Know-how. Wir gewinnen Nobelpreise, da stehen wir auf Augenhöhe mit den USA. Unser Mittelstand und unsere Ingenieursfähigkeiten sind weltweit bekannt und geachtet. Zudem sind wir ein sehr wohlhabendes, sicheres Land mit einem funktionsfähigen Rechtsstaat und wir verfügen grundsätzlich über das notwendige Kapital. Wir haben also alle Zutaten für ein erfolgreiches Rezept für die Zukunft. Das müssen wir jetzt nutzen. Für das Thema Kapital bedeutet das zum Beispiel, dass wir viel stärker in Innovation und Wachstum investieren sollten.

Über die Interviewpartnerin

Verena Pausder ist Unternehmerin und seit Dezember 2023 Vorstandsvorsitzende des Start-Up-Verbands Deutschland. Das Weltwirtschaftsforum ernannte sie 2016 zum „Young Global Leader“. Pausder engagiert sich in der digitalen Bildung und gründete mehrere Apps in dem Bereich. Ihre Gründung Fox & Sheep ist heute einer der größten Entwickler für Kinder-Apps in Deutschland.

Viel Licht fällt aktuell auf traditionelle Industriezweige wie die Automobilindustrie. Wenn es dort schlecht läuft, geht es gefühlt ganz Deutschland schlecht. Gibt es noch Innovationen in diesen Industrien, auch von Start-Ups? Oder sind diese Industrien tot für Start-Ups und man muss sich etwas anderes überlegen?

Pausder: Überhaupt nicht. Wenn ich Start-Ups wie DeepDrive in München besuche, arbeiten sie eng mit BMW, Volkswagen und Audi zusammen. Sie haben eine Antriebstechnologie für E-Motoren entwickelt, die besser und schneller ist als alles, was die anderen entwickelt haben. Das ist ein Beispiel, wie die etablierte Wirtschaft Innovationen von Startups nutzen kann und am Ende beide Seiten davon profitieren. Start-Ups und Konzerne sollten ihre Stärken noch viel mehr bündeln – die Zahl ist leider rückläufig. Orte wie die DLD-Konferenz oder das „Hinterland of Things“ in Bielefeld, wo Mittelstand, Großkonzerne und Start-Ups zusammenkommen, sind wichtig. Wir müssen stärker zusammenarbeiten. 

Welche Branchen oder Wirtschaftszweige sind die neuen Stars, wo im Moment besonders viel Innovation stattfindet?

Pausder: Deep Tech, definiert als forschungsbasierte oder IP-basierte Gründung, erlebt gerade einen riesigen Aufschwung. 11,4 Prozent der Start-Ups sind Deep-Tech-Start-Ups, und die Tendenz ist stark steigend. Wichtig ist, dass Investoren in diesem Bereich das notwendige Fachwissen mitbringen. Besonders spannend sind Space Tech, also Raumfahrttechnologien, sowie Kernfusion mit führenden Start-Ups wie Marvel Fusion und Proxima Fusion. Die sind beide führend weltweit. Auch Quantencomputing, wie Planqc aus dem Max-Planck-Institut, Klimatechnologien und KI-basierte Start-Ups sind stark im Kommen.

Große Beispiele wie Lilium scheitern oft krachend. Woran liegt das?

Pausder: In bestimmten Bereichen wird es Gründerinnen und Gründern bei uns leider extrem schwer gemacht, erfolgreich zu sein. Dazu zählt, ganz unabhängig von Lilium, zum Beispiel auch der Umgang mit dem Scheitern. 

Ist das oft so, dass Gründer es in Deutschland unnötig schwer haben?

Pausder: Total. Als Pionier hat Lilium zum Beispiel viele Steine aus dem Weg räumen müssen und dabei wertvolle Expertise gesammelt, die für andere Start-Ups hilfreich ist. Viele Deep-Tech-Start-Ups profitieren davon. Der Staat müsste noch aktiver sein, er sollte Taktgeber für Innovationen werden – deshalb fordern wir, dass bis 2030 fünf Prozent aller öffentlichen Aufträge an Startups vergeben werden. 

So könnte der Staat DeepTech fördern und Standort-Commitment zeigen. Wir müssen klar machen, dass wir solche Technologien hier haben wollen und sie unterstützen. Da geht es gar nicht immer nur um Steuergelder, sondern um Rückendeckung für Innovationen. Im Übrigen verdient der Staat mit seinen Startup-Beteiligungen unter dem Strich sogar Geld. Das unterscheidet sie von vielen Subventionen, die in die etablierte Wirtschaft fließen. 

Wenn Gründer gar nicht an Zuschüssen und Geld scheitern, was müsste der Staat stattdessen konkret tun?

Pausder: Wenn man nach Frankreich schaut, sieht man, wie Präsident Macron sagt: "Ich will, dass Frankreich eine Start-up-Nation ist." Er feiert jede große Kapitalrunde öffentlich, lädt Start-ups in den Élysée-Palast ein und lenkt so positives Licht auf Technologie. Diese Wertschätzung ist für Gründerinnen und Gründer wahnsinnig wichtig. Das bestärkt sie in ihren Vorhaben und ist ein starkes Zeichen für die gesamte Gesellschaft. Aber Wertschätzung allein ersetzt keine guten Rahmenbedingungen. Beispielsweise sollten Testanlagen und Prototypen schneller genehmigt und bürokratische Hürden abgebaut werden. Eine innovationsfreundliche Regulatorik ist neben Kapital genauso wichtig. 

Welche Hürden haben Gründer und Gründerinnen in Deutschland?

Pausder: Kapital ist eine große Hürde – insbesondere in der Wachstumsphase. Auch wenn sich in den letzten Jahren viel getan hat, gibt es hier im internationalen Vergleich nach wie vor großen Aufholbedarf. Bürokratie ist ein weiteres Problem. Die Auszahlung des sogenannten INVEST-Zuschusses zum Beispiel dauert oft viele Monate, teilweise über ein Jahr. Ähnliches gilt für die Steuernummer, darauf warten Gründer nicht selten mehrere Monate. All das wird der Dynamik von Startups nicht gerecht. Wir müssen hier schneller und effizienter werden. 

Wer müsste die Finanzierung übernehmen, wenn nicht der Staat?

Pausder: Der Staat ist sicher nicht der bessere Investor. Aber er kann einen Beitrag leisten, privates Kapital zu mobilisieren. Im Ausland, wie in den USA, Kanada oder Skandinavien, investieren Pensionskassen und Versicherer bereits in größerem Umfang in Venture Capital. Am Ende profitieren nicht nur Startups, sondern dank guter Renditen auch Rentner,  Pensionäre und Versicherte. Bei uns passiert das nicht, und daher finanzieren wir die Rente mit 120 Milliarden Euro Steuergeld. Die sind dann weg. Wir sollten das Geld für uns, für Innovation und Wachstum arbeiten lassen. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Sie sollten jetzt in Angriff genommen werden. Die Win-Initiative letztes Jahr war ein guter Anfang, bei dem Pensionskassen und Versicherer zwölf Milliarden Euro für Growth Capital bis 2030 zugesagt haben. Bei alldem dürfen wir nicht vergessen, dass wir attraktive Exit-Kanäle benötigen. Dafür brauchen wir einen starken Kapitalmarkt. Deswegen ist die Kapitalmarktunion der EU so wichtig.

Würden Sie sagen, die aktuelle Gründungswelle in Deutschland hat positive oder negative Ursachen?

Pausder: Für mich ist das keine Welle. Elf Prozent Zuwachs zeigt eher, dass wir die Talsohle durchschritten haben. Das bedeutet nicht, dass die Wirtschaft schlecht läuft und Leute aus Alternativlosigkeit gründen. Es handelt sich hier ja um Tech-Gründungen – Leute gründen nicht aus der Not heraus, sondern weil sie eine große Chance auf Wachstum sehen. Tech-Unternehmer wird man nicht, weil man entlassen wurde, sondern weil man lange eine Idee hat und die umsetzen will. Der Anstieg an Gründungen in Krisenzeiten bestätigt die These, dass Krisenzeiten Unternehmergeist fördern. Erfolgreiche Unternehmen wurden oft in schwierigen Zeiten gegründet, wie SAP in der Ölkrise und Zalando kurz nach der Lehman-Pleite. Das alles macht optimistisch. Wir sollten uns nicht unterkriegen lassen. 

VerenaPausderDLD2025
Verena Pausder auf einem Panel des DLD 2025 in München im Gespräch mit TUM-Professorin Ann-Kristin Achleitner. Philipp Guelland for DLD/Hubert Burda Media

Wie wichtig sind Start-Ups angesichts der aktuellen konjunkturellen Lage, angesichts dessen, dass ihre Gründung anfangs viel Geld kostet? Haben wir dieses Geld?

Pausder: Wir haben auf jeden Fall das Geld – wir legen es nur falsch an. Viel privates Kapital steckt derzeit in Immobilien oder Staatsanleihen und nicht ausreichend in Innovationen. In großen Family Offices ist das Investment in Deep-Tech-Innovationen oft unterrepräsentiert. Es ist falsch zu denken, dass man wegen einer Rezession oder einer schwachen Wirtschaftslage keine neuen Unternehmen gründen sollte. Wenn bestimmte Branchen ein vorübergehendes Tief durchlaufen oder nicht mehr wettbewerbsfähig sind, sollten wir überlegen, ob es nicht sinnvoller ist, auf die nächste Innovationswelle zu setzen. In kleinen Einheiten wie Start-Ups steckt aber natürlich besonders viel Kreativität und Innovationskraft. 

Es ist aber schwierig zu beurteilen, in welche Start-Ups man investieren sollte, oder? Viele scheitern. Wie gehen Pensionsfonds oder Family Offices damit um?

Pausder: Man diversifiziert die Investments, das geht beispielsweise über Dachfondsstrategien. Das bedeutet, man investiert in einen Fonds, der wiederum in verschiedene Venture-Capital-Fonds investiert. Dadurch kommt man auf ein Portfolio von 400 Start-Ups und eine breite Streuung des Risikos. Beim europäischen Investmentfonds (EIF), der seit 30 Jahren in dieser Assetklasse investiert, sind zweistellige Renditen keine Seltenheit. Es ist Zeit, Risikokapital als Chancenkapital zu sehen und nicht zu denken, da wird die Rente in ein einzelnes Start-Up gesteckt – das sind stark diversifizierte Portfolios. 

Die Idee einer staatlichen Aktienrente könnte also auch auf Start-Ups angewendet werden?

Pausder: Auf jeden Fall, solange es eine diversifizierte Strategie ist. An vielen erfolgreichen Start-Ups in Deutschland ist ein US- oder kanadischer Pensionsfonds beteiligt. Das heißt, ein Lehrer aus Ontario partizipiert an unserem Erfolg, deutsche Rentner aber nicht. Das ist doch unfair. Zudem sollten wir berücksichtigen, dass wir hier über Engagements im niedrigen einstelligen Prozentbereich reden. Für Start-Ups wäre dieses überschaubare Engagement aber ein riesiger Hebel.   

Sind die Deutschen als Gesellschaft zu vorsichtig?

Pausder: Ja, wir sind ein risikoaverses Volk. Wir sprechen viel darüber, was passiert, wenn etwas nicht klappt und wir sind froh, solange es nicht schlechter wird, als es mal war. Dabei ist das total paradox. Denn am Ende ist nichts riskanter als kein Risiko einzugehen. Lasst uns Dinge ausprobieren und positive Ziele formulieren – in welcher Gesellschaft wollen wir leben – wo soll unser Land hin? Inspirierende Geschichten von erfolgreichen Gründern, die Arbeitsplätze schaffen und Innovationen vorantreiben, geben Hoffnung und machen Lust auf die Zukunft. 

Veränderung beginnt ja im Kleinen. Was würdest du also jedem Einzelnen empfehlen?

Pausder: Ein Satz, der für mich viel verändert hat, lautet: "Was ist, wenn es klappt?" Egal ob im Corporate-Bereich, im Mittelstand oder bei Gründern: Wenn jemand mit einer Idee kommt, sollten wir uns vorstellen, wie es wäre, wenn diese Idee erfolgreich ist. Was würde das für unser Leben, unsere Zukunft und unsere Welt bedeuten? Dann gehen wir automatisch den Weg der Chance und überlegen, wie wir die Idee verwirklichen, statt nur Risikobegrenzung zu betreiben. Ich möchte lieber Chancen erweitern als Risiken begrenzen.