Bürgergeld-Experte liest Linker Leviten - die bringt absurdes Klinik-Beispiel

Rainer Schlegel, langjähriger Präsident des Bundessozialgerichts, hält die geplante Bürgergeld-Reform mit den geplanten Total-Kürzungen für verfassungskonform und rechtssicher. Für die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" hat Schlegel ein Gutachten zur geplanten Reform angefertigt, das er nun in Berlin öffentlich präsentierte.

Das Bürgergeld soll bald Grundsicherung heißen. Die Reform sieht vor, dass bei mehrfachem Versäumen von Terminen im Jobcenter und der Verweigerung von Jobangeboten, Bürgergeld-Empfängern alle Leistungen gekürzt werden, einschließlich der Kosten für die Wohnung. "Das ist verfassungsgemäß und es auch ethisch vertretbar", sagt Schlegel bei der Präsentation. Mit dem jetzigen Bürgergeld sind Total-Kürzungen nicht möglich. Das soll sich ändern.  

Bürgergeld-Experte: Nicht hinter dem Verfassungsgericht verstecken

"Wenn einer zu verstehen gibt, dass er nicht will, wird er so behandelt wie einer, der nicht bedürftig ist." Schlegel weiter: "Wenn einer Leistung bezieht und die Solidarität von anderen erwartet, kündigt er diese Solidarität auf, wenn er sich verweigert." Kritikern warf der Jurist vor, dass sie mit dem Verfassungsgericht gerne drohen und sich dahinter verstecken würden, um Reformen abzuwenden. "Der Gesetzgeber darf alles. Das Bundesverfassungsgericht ist die einzige Leitplanke", stellt er knallhart dar.  

Um Schlegels juristische Ausführungen politisch einzuordnen, waren Johannes Winkel, Chef der Jungen Union, und Berlins Ex-Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) zum Talk in Berlin-Mitte, unweit des Brandenburger Tors, geladen. Kipping machte klar, dass sie als Geschäftsführerin des Paritätischen Gesamtverbands spricht und in dieser Rolle Empfänger wie Jobcenter-Mitarbeiter kenne. 

Doch Katja Kipping war selbst lange Parteichefin der Linken und ist natürlich gegen die Total-Kürzungen. Um das klarzumachen, brachte sie ein Extrembeispiel, das bei Rainer Schlegel und manchen Zuschauern im Publikum für Kopfschütteln sorgte. Kippings Argument: Wenn eine Empfängerin ungeplant ins Krankenhaus muss und dort operiert werden muss, hätte das Jobcenter die Möglichkeit, sie mit drei Briefen am Tag zu Terminen aufzufordern. Sie würde die Terminaufforderung verpassen. "Das geht mit der Reform. Und der Frau werden dann alle Leistungen gestrichen. Wir wissen doch alle, dass wir solche Leute nicht treffen wollen!"

JU-Chef gegen Katja Kipping: "Seien Sie nicht so populistisch"

Rainer Schlegel musste diese Kipping-Aussage erst mal einfangen: "Ein Krankenhausaufenthalt ist ein Härtefall. Drei Briefe an einem Tag zu schicken, ist Missbrauch, nicht vom Empfänger, sondern vom Jobcenter. So ein Szenario hat vor keinem Gericht Bestand." 

JU-Chef Winkel bat Katja Kipping um weniger hypothetische Extremfälle. "Seien Sie bitte nicht so populistisch." Winkel verteidigte die geplanten Sanktionen. "Wenn jemand dreimal unentschuldigt nicht zur Arbeit kommt, hat er irgendwann auch die Abmahnung und die Kündigung auf dem Tisch." Die Steuern und Abgaben in Deutschland seien hoch, so der JU-Chef. Wenn die Leute merkten, es komme wenig zurück oder es gehe ungerecht zu, steige die Unzufriedenheit.

Katja Kipping trat eher zurückhaltend und moderat auf. War ihr ihr Klinik-Beispiel mit den drei Briefen vom Jobcenter etwa peinlich? Ihre Haltung blieb aber unverändert. Auf Nachfrage von FOCUS online präzisierte sie noch mal: "Ich bin gegen die Kürzung des soziokulturellen Existenzminimums, egal, wie blöd oder unsympathisch ich jemanden finde. Mit der Verschärfung wird der Kontrollapparat und die Verwaltung teurer."

Bürgergeld-Experte: Bei der Reform muss nachgebessert werden

Bei den Kosten für die Verwaltung hat Kipping einen richtigen Punkt. Rainer Schlegel beziffert die jetzigen Verwaltungskosten beim Bürgergeld auf 6,1 Milliarden Euro pro Jahr. Sehr viel, wie auch er findet.

Ein Gesetz zur Grundsicherung gibt es noch nicht. Nur einen Beschluss des Koalitionsausschusses der Regierung von Friedrich Merz (CDU) sowie einen ersten Entwurf. Rainer Schlegel sieht auch bei der Reform noch Nachbesserungsbedarf: Die Kosten der Unterkunft seien zu hoch, ihre Ermittlung in der Verwaltung zu aufwendig. "Gut wäre hier eine Kostenpauschale für die Miete, die der Staat zahlt. Der Empfänger sucht sich dann eine geeignete Wohnung", so der Bürgergeld-Experte.

Und auch bei den Total-Kürzungen müsse man noch mal ran. Da brauche es trotzdem eine Differenzierung, findet der Jurist: "Was ist mit dem Familienvater, der durch seine Verweigerung die gesamte Familie in den Abgrund zieht?" 

Bürgergeld-Reform: Diese Idee hat der Experte

Die zentrale Frage bei der Grundsicherung bleibt für Rainer Schlegel, Katja Kipping und JU-Chef Johannes Winkel: Will einer nicht arbeiten oder kann einer nicht arbeiten?

"Um das herauszufinden, müssen Jobcenter-Mitarbeiter rausgehen und Hausbesuche bei den Empfängern machen. Erst dann können sie sich ein Bild der Lage machen. Wenn sie einen Bürgergeld-Empfänger einmal im Monat sehen, gewinnen sie eine Einschätzung und daraus entsteht irgendwann ein Gesamtbild", schlägt Rainer Schlegel vor. Ein Treffen einmal im Monat sei für einen Empfänger absolut zumutbar. Diese Idee findet auch Katja Kipping gut.