FOCUS online: Herr Peichl, Sie sind Leiter des Ifo-Zentrums für Makroökonomik und Befragungen und haben mit Ihren Kollegen alle Sozialleistungen, die es in Deutschland gibt, untersucht. Warum haben Sie das getan?
Andreas Peichl: Deutschland hat hohe Sozial-Ausgaben. Wir wollten genau schauen, wer welche Leistungen bekommt, wie oft welche Leistung vergeben wird. Dazu mussten wir erst mal alle Sozialleistungen, die man beantragen kann, auflisten. Am Ende kamen wir auf über 500. Dass es so viele sind, hätten wir niemals gedacht.
Viele kennen das Bürgergeld, Arbeitslosengeld, das Elterngeld und das Wohngeld. Was gibt es denn noch alles?
Peichl: Viele Leistungen können zusammen beantragt werden. Das Bürgergeld besteht ja aus dem Regelsatz und Kosten für die Unterkunft. Zum Bürgergeld gibt es, wenn die Empfänger Kinder haben, das Bildungs- und Teilhabepaket. Viele wissen das gar nicht.
Forscher: Viele unterschiedliche Leistungen, die gleich klingen
Was kam Ihnen besonders absurd vor?
Peichl: Es gibt etliche Leistungen allein für Bergleute, unterschieden nach Alter und Berufsjahren. Viele verschiedene Leistungen allein für die Witwenrente. Das ist alles unglaublich detailreich. Wenn Sie fünf, sechs Punkte hintereinander lesen, klingen die erstmal gleich. Nur ein Wort unterscheidet sich. Das ist dann aber jeweils eine andere Leistung, die beantragt werden muss.
Können Sie da weiter ins Detail gehen?
Peichl: Für Kinder mit psychischen Erkrankungen können Leistungen beantragt werden. Das ist auch gut so. Aber es gibt für jede Altersstufe eine eigene Leistung. Ähnlich ist es bei der Pflege. Sie können Pflegegeld beantragen, jeder Pflegegrad wird unterschieden. Dann gibt es Anträge auf eine Haushaltshilfe, Anträge auf Hygienemittel, Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege. Sie können auch für Umbaumaßnahmen am Haus Hilfe beantragen. Alles unterschiedliche Leistungen.
Nachdem Sie sich näher mit dem deutschen Sozialstaat beschäftigt haben: Was sind Ihre Forderungen?
Peichl: Man müsste das alles pauschalisieren und zentralisieren, die Leistungen zusammenfassen. Großbritannien hat das vor einigen Jahren erfolgreich gemacht. In Deutschland glaubt man, mit vielen Einzelfallregelungen Geld zu sparen. Aber es passiert genau das Gegenteil. Wir haben einen so hohen Verwaltungsaufwand, dass es am Ende teurer wird. Wenn Sie Wohngeld und Kinderzuschlag beantragen und später, wenn Sie arbeitslos werden, noch Bürgergeld beantragen, müssen Sie zu drei unterschiedlichen Stellen. Diese Stellen dürfen die Daten nicht austauschen. Eine Pauschalisierung in einer Stelle kostet erst mal Geld, weil vielleicht jemand ein paar Euro zu viel bekommt. Doch nach zwei Jahren rechnet sich das wieder, weil die Verwaltung eingespart wird. Das Bürgergeld kostet im Moment Geld und Arbeit.
500 Millionen Verwaltungskosten allein für Jobcenter-Mitarbeiter
Wie viel Bürokratie steckt denn im Bürgergeld?
Peichl: Wenn sich bei den Aufstockern minimal etwas ändert, muss immer ein neuer Bescheid ausgestellt werden. Das Bürgergeld kommt am Anfang des Monats, das Gehalt der Aufstocker am Monatsende. Ändert sich dann etwas, nur eine Kleinigkeit, muss der Bürgergeld-Bescheid rückwirkend geändert werden. Da kann am Ende ein Bescheid 200 Seiten haben. Untersuchungen haben ergeben, dass 50 Prozent der Arbeit der Jobcenter-Mitarbeiter allein für die Verwaltung verwendet wird. Wenn wir 20.000 Jobcenter-Mitarbeiter in Deutschland haben, stellen wir 10.000 Mitarbeiter allein für die Bürokratie ab. Wenn jeder von ihnen im Schnitt 50.000 Euro brutto pro Jahr verdient, landen wir bei 500 Millionen Verwaltungskosten im Jahr, allein in den Jobcentern.
Wer denkt sich denn über 500 verschiedene Sozialleistungen aus?
Peichl: Niemand. Da ist, glaube ich, über die Jahre immer jemand gekommen und hat gedacht: 'Ich schreibe mal noch einen schlauen Punkt dazu.' Es ist eine deutsche Einzelfallgerechtigkeitssuche. Für jeden Fall hat man versucht, eine Leistung zu finden. Wenn wir so weitermachen, haben wir am Ende bei 83 Millionen Bürgern 83 Millionen Leistungen.
Was haben Sie vom deutschen Sozialstaat gelernt? Was finden Sie gut und was weniger gut?
Peichl: Diese kleinteiligen Regeln und Leistungen sind auch ziemlich gut, weil sie den Menschen individuell helfen können. Und es ist gut, dass Betroffenen in Deutschland geholfen wird. Gleichzeitig ist das bürokratisch und aufwendig. Ich kann mir vorstellen, dass bei der Bürokratie unglaublich viel Geld verschwendet wird.
Stimmt es, dass Sie aufgrund dieser Menge Ihre Studie abbrechen und aufgeben mussten, weil es undurchsichtig wurde?
Peichl: Nein, das stimmt nicht. Wir wollten die Leistungen quantifizieren, also genau schauen, wie oft eine Leistung vergeben wird. Wir sind aber erstmal nur bis zur Aufzählung der Leistungen gekommen. Unsere Arbeit geht noch weiter.