Ich arbeite seit vielen Jahren als Bestatter. Mein Beruf hat mich fachlich geprägt – klar, das lernt man sauber, ordentlich, strukturiert. Aber die menschlichen Lehren, die wirklich etwas in mir verändert haben, entstehen dort, wo Bücher, Seminare und Abläufe an ihre Grenzen kommen: im Kontakt mit Familien, in echten Gesprächen, in Momenten, die man nicht planen kann.
Und irgendwann wurde mir klar:
Der Tod bringt nichts Neues in uns hervor. Er verstärkt nur, was ohnehin da war – Liebe, Konflikt, Nähe, Distanz. Diese fünf Dinge begleiten mich heute beruflich und privat.
Welche fünf Dinge ich als Bestatter über den Tod gelernt habe
1. Wenn es ernst wird, sprechen Menschen direkter
Eine Tochter hielt die Hand ihrer sterbenden Mutter, während der Arzt erklärte, dass sie in die finale Sterbephase eintritt. Ich erwartete Überforderung. Stattdessen sagte sie: "Okay. Dann bleiben wir jetzt bei dir." Kein Drama. Kein Schockzustand. Nur Klarheit.
Meine Lehre: Wenn das Leben ernst wird, reden Menschen direkter. Sie lassen Rollen, Floskeln und Ausweichmanöver weg. Und das versuche ich nun immer. Ich sage Dinge heute früher und ehrlicher.
2. Die ersten Stunden nach dem Tod geben Halt – oft mehr als jede Struktur
Eine Frau war zu Hause verstorben. Ihr Sohn – Anfang 40, völlig überfordert – lief rastlos zwischen Zimmern hin und her. Er wusste nicht, wohin mit sich.
Dann setzte er sich zu seiner Mutter, nahm ihre Hand – und wurde ruhig. Nach Minuten sagte er: "Jetzt kann ich wieder atmen." Das war kein Ritual, kein Tipp, kein Konzept. Es war authentische menschliche Nähe.
Meine Lehre: Der erste körperliche Abschied ist oft nicht der Schock – sondern der Moment, der Menschen stabilisiert.
Privat heißt das für mich: Ich unterschätze nie, wie wertvoll ein einziger ruhiger Moment in einer Krise sein kann. Ein Moment, der die ganze Perspektive ändern kann.
3. Die wichtigsten Gespräche passieren vor der Beerdigung
Viele denken, die Beerdigung sei der emotionale Wendepunkt. Aber die wirklich relevanten Momente passieren vorher. An meinem Tisch sitzen Familien oft zum ersten Mal seit Jahren wieder zusammen. Sie sortieren Fotos, lachen, schweigen, sprechen Dinge aus, die lange feststeckten.
Eine Tochter sagte einmal: "Ich habe ihm das nie verziehen." Ihr Bruder antwortete: "Dann sag's jetzt."
Meine Lehre: Beziehungen verändern sich nicht am Grab – sie verändern sich vorher, im Kleinen, im Echten. Privat bedeutet das für mich: Ich schiebe solche Gespräche nicht mehr nach hinten. Kein Konflikt mit Menschen, die mir was wert sind, gehört aufgeschoben.
4. Schmerz und Heilung liegen am selben Punkt
Im Abschied sehe ich täglich Menschen, die gleichzeitig weinen und lächeln. Die sagen: "Es tut weh – aber ich bin froh, dass es weh tut." Das wirkt widersprüchlich – ist aber zutiefst menschlich.
Meine Lehre: Schmerz ist kein Zeichen von Schwäche. Er zeigt, dass etwas Bedeutung hatte. Und genau dort entsteht später Kraft. Vor allem bei Trauer ist die Schizophrenie am größten. Hier liegen Schmerz und Heilung deckungsgleich am selben Ort.
Privat heißt das: Ich versuche nicht mehr, unangenehme Gefühle zu umschiffen. Sie haben ihren Platz.
5. Der Tod verstärkt, was vorher da war – besonders die Liebe
Es gibt ein Muster, das ich überall sehe: Der Tod macht niemanden plötzlich liebevoll oder plötzlich schwierig. Er holt nur hervor, was im Alltag oft überdeckt ist.
Wenn vorher Nähe und Respekt da waren, sieht man sie im Abschied stärker als je zuvor. Wenn vorher Spannungen oder ungelöste Konflikte existierten, treten sie ebenso hervor.
Und gleichzeitig sehe ich: Wir leben nicht in Zeiten von zu wenig Liebe. Wir leben in Zeiten von zu viel Ablenkung. Der Tod nimmt die Ablenkung weg.
Meine Lehre: Ich warte heute nicht mehr darauf, dass ein schlechter Moment Liebe sichtbar macht. Ich versuche, sie früher zu zeigen.
Welche Lehren ich aus dem Tod ziehe
Aus all dem sind für mich fünf private Leitlinien geworden:
1. Sprich klar, wenn es wichtig ist.
Menschen vertragen Ehrlichkeit besser als Distanz.
2. Ein einziger ruhiger Moment kann eine Krise stabilisieren.
Nicht immer muss man "etwas tun".
3. Wichtige Gespräche gehören nach vorne.
Sie werden nicht leichter, wenn man wartet.
4. Gefühle sind Hinweise, keine Störungen.
5. Zeige Liebe, bevor der Druck sie sichtbar macht.
Der Tod verstärkt nur, was vorher da war.
Diese fünf Dinge begleiten mich beruflich und privat – und sie erinnern mich jeden Tag daran, wie wertvoll ein ehrlicher, menschlicher Moment sein kann.
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Bildquelle: Eric Wrede
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Eric Wrede, Bestatter, Autor und Podcaster, prägt mit lebensnah Bestattungen eine moderne Trauerkultur in Deutschland und steht für einen offenen, authentischen Umgang mit Tod, Abschied und Neubeginn. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.