In Hannovers Innenstadt fallen Schüsse. Ein Mann stirbt, drei sind verletzt. Augenzeugen berichten der "Hannoverschen Allgemeinen" von einem Blutbad vor der Bar Lion 96, ein Feuergefecht habe sich zugetragen.
Manche Ecken der Straße sind bekannt als Drogenumschlagplatz, jedoch bisher nicht für Auseinandersetzungen mit Schusswaffen. Ein Haftbefehl wurde erteilt, die Polizei erklärt auf Anfrage, das 27-jährige Opfer sei türkischer Staatsbürger gewesen.
Während sich die Behörden bedeckt geben, berichten türkische Medien schnell, es habe sich um einen Revierkampf zwischen den "Daltons" und einem kurdischen Geschäftsmann aus dem Berliner Glücksspielmilieu gehandelt. FOCUS online erhält einen Kontakt.
Das Opfer heiße Serdar G.
Der Mann nennt sich "DLT Mahir", Dalton-Mahir, und „Sprecher“ der Daltons. Er möchte reden. Einen Video-Call lehnt er ab, er müsse aufpassen, ein internationaler Haftbefehl liege gegen ihn vor. Einen vereinbarten Telefontermin lässt er platzen. Er schreibt auf Türkisch über eine Schweizer WhatsApp-Nummer.
Das Opfer heiße Serdar G.. Er sei der Handlanger von Mehmet K. gewesen, einem kurdischen Geschäftsmann aus der Berliner Glücksspiel-Szene, der die Ausbreitung der Daltons in Hannover verhindern wolle. Serdar habe sich „respektlos“ gegenüber der Dalton-Familie gezeigt und bei dem aufkommenden Streit erschossen worden.
Dass Dalton-Mahir ein Insider ist, bestätigt ein türkischer Exil-Journalist, der schon lange zur türkischen Mafia recherchiert und selbst mit diesem Informanten in Kontakt steht. Den Daltons reicht der eine Tote offenbar noch nicht. „Mahir“ schreibt, man werde jetzt „Mehmet K. und seinen Freund C.B. töten“.
Spuren führen nach Istanbul
Seit etwa drei Jahren lassen sich Spuren türkischer Straßengangs mit Wurzeln in Istanbul auch in Europa feststellen. Sie nennen sich Daltons, Red Kits, Casperlar (die Kasper), Gündogmuslar, Cirkinler (die Hässlichen), Baygaralar und werben auf TikTok Jugendliche mit Versprechen vom schnellen Geld und Mafia-Action an.
In der Türkei werden ihnen zahllose Morde zur Last gelegt, meist liefern sie sich Kriege um Schutzgeld- und Drogenreviere. Dabei feuern Jugendliche von fahrenden Autos und Motorrädern auf ihre Gegner, filmen sich und ihre Opfer.
Für ihren Waffen- und Drogenschmuggel nutzen diese Gangs inzwischen auch die Fluchtrouten Richtung Europa. Anfang Oktober griff die Polizei laut griechischen Medien sechs Frauen und sieben Männer am türkisch-griechischen Grenzfluss Evros auf und fand 147 neue Glock-Pistolen, 190 Magazine sowie Waffenzubehör.
Auch in Deutschland Hinweise auf Aktivitäten
Die Ermittler schreiben den Fund der türkischen Mafia zu, die in den vergangenen zwei Jahren mit zehn Banden und etwa 500 Mitgliedern in das Land eingesickert seien. Von hier führen die Spuren weiter Richtung Zentraleuropa. Morde der Gruppen Cirkinler und Casperlar an Dalton-Anführern wurden in diesem Jahr in Spanien und Belgien registriert.
Auch in Deutschland finden sich Hinweise auf Aktivitäten. So nahm die Polizei im Juli den Kopf der Casperlar-Bande, Ismail A. (26), auf einem Parkplatz in Hessen fest. Ein dicker Fisch. Doch wie der SWR berichtete, ließ die Staatsanwaltschaft Frankfurt den mit internationalem Haftbefehl Gesuchten nach vier Tagen wieder laufen – trotz eines Auslieferungsantrags der Türkei.
116 Straftaten werfen die türkischen Ermittler Ismail A. vor, darunter Körperverletzung, Mord, Totschlag. Die türkische Presse zeigte sich empört. Der Insider „Mahir“ wirft mit Verschwörungstheorien um sich: Er behauptet, für die Freilassung von Ismail A. sei Schmiergeld an die deutsche Polizei geflossen und diese habe einen Pakt gegen die Daltons geschlossen.
Boyun soll „Terrornetzwerk“ gegründet haben
Ismail A. reiste als freier Mann weiter nach Italien. Dort wurde er im September verhaftet. Die italienische Polizei arbeitet intensiv mit der türkischen Polizei und Europol zusammen. So konnte sie auch seinen Rivalen Baris Boyun (41), den Kopf des weitläufigen Dalton-Kartells, im letzten Jahr in seinem Unterschlupf in der Toskana festsetzen.
Boyun wurde für drei Monate in einer zuvor verwanzten Wohnung in den Hausarrest geschickt. Die Telefonprotokolle liegen FOCUS online vor. Sie sind die Grundlage für die Anklage gegen Boyun. Demnach hat er ein „Terrornetzwerk“ gegründet, das in der Zeit seines Hausarrests von Italien aus Anschläge in der Türkei organisierte.
Auch geht aus den Protokollen der Polizei Mailand hervor, dass sein Netzwerk bis in die Schweiz und nach Deutschland reicht. Der Name „Dalton“ taucht zudem in Berliner Strafverfahren auf. Zwei 20-jährige türkische Flüchtlinge hatten auf zwei türkische Supermärkte geschossen.
Sie seien, so erzählten sie laut Berliner Morgenpost vor Gericht, von einem „Ahmet von den Daltons“ mit Drogen und Unterkunft versorgt worden. Von diesem hätten sie auch die Waffen bekommen. Laut Polizei ging es um Schutzgelderpressung, der Supermarktinhaber sollte bis zu 500.000 Euro zahlen.
Was bedeuten die Entwicklungen für Europas Sicherheit?
Doch weder die Staatsanwaltschaft Hannover, das LKA Niedersachsen, BKA oder Europol geben auf Anfrage Informationen zum Wissensstand über Banden wie die „Daltons“ heraus. Nur das LKA Niedersachsen erklärt dünn: „Das Phänomen ist bekannt.“
Und obwohl der Prozess in Berlin konkrete Hinweise auf die „Daltons“ gibt, antwortet die Berliner Generalstaatsanwaltschaft auf die Frage nach Informationen zu diesem Namen, dass man in dem vorhandenen Registratursystem nicht nach entsprechenden Begriffen suchen könne. Was bedeuten diese Entwicklungen für die Sicherheit in Europa? Für Jürgen Stock ist Information in der Bekämpfung der organisierten Kriminalität alles.
Er war bis 2024 Generalsekretär von Interpol und warnt vor einer „Epidemie grenzübergreifender Kriminalität“ und vor regionalen Banden, die sich zunehmend internationalisieren.
Im Gespräch erklärt er: „Die Gruppen arbeiten Kontinent übergreifend zusammen. Eine Interpol-Analyse 2023 zeigte, dass die 15 gefährlichsten Kartelle auf allen Erdteilen vernetzt präsent sind wie große Holdings.“
Die Informationen hierzu müssten schneller und systematischer ausgetauscht werden. Denn zusammen mit Gewalt, Drogen und den Milliarden, die in den legalen Wirtschaftskreislauf geschleust werden, haben diese Banden „durchaus das Potenzial, industriell entwickelte Staaten zu destabilisieren, auch in Europa.“