Bürgergeld: Explosive Studie räumt mit Irrtum zum Stütze-Stopp auf

Acht Jahre lang hatte Rainer Schlegel als Präsident des Bundessozialgerichts mit den Abgründen des Sozialstaats zu tun: Da gibt es Menschen, die durchs Rost zu fallen drohen, aber auch Menschen, die den Sozialstaat schamlos missbrauchen. In einer umfassenden Studie im Auftrag der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ kommt der Top-Jurist nun zu dem Schluss: Der Koalitionsplan, bei Missbrauch alle Mittel zu streichen, verstoße nicht gegen die von der Verfassung geschützte Menschenwürde.

Studie: „Schwarze Schafe“ leisten Populisten Vorschub 

Gleich zu Beginn macht Schlegel klar, dass seine spektakulären Studienergebnisse nur eine kleine Minderheit von Bürgergeld- beziehungsweise demnächst Grundsicherungs-Beziehern treffen: Die allermeisten Leistungsbezieher verhielten sich völlig korrekt, sie kämen ihren Mitwirkungspflichten nach und nutzten das System nicht aus. Gerade die "schwarzen Schafe“ aber drohten das gesamte System der Grundsicherung in Misskredit zu bringen und Populisten Vorschub zu leisten. 

Die Kritiker des Zahlungsstopps berufen sich unter anderem auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010 in dem das Gericht urteilte, dass Hilfebedürftige "einen Rechtsanspruch auf die Gewährleistung eines soziokulturellen Existenzminimums durch den Staat“ hätten.

 Studie räumt mit juristischem Irrtum auf 

Dieses Urteil aber betraf das Absenken von Zahlungen für Asylbewerber aus "migrationspolitischen Motiven“, wie Schlegel schreibt. Das Urteil auf alle Bürgergeld- und Grundsicherungsempfänger auszudehnen, ist der Schlegel-Studie zufolge unnötiger vorauseilender Gehorsam. Wer beim Staat Stütze beansprucht, behauptet zunächst, Hilfebedürftig im Sinne des Gesetzes zu sein. Wer sich dann aber nie beim Amt blicken lässt, keine Jobangebote annimmt oder keine Belege für seine Hilfsbedürftigkeit vorlegt, für den schlägt der Ex-Präsident des Bundessozialgerichts eine härtere Gangart vor. 

Sein "Regelungsvorschlag“ ist simpel: "Lehnt ein erwerbsfähiger Leistungsberechtigter eine ihm zumutbare Arbeit ohne sachlichen Grund ausdrücklich oder konkludent durch sein Verhalten ab, sollte künftig vermutet werden, dass er nicht bedürftig ist.“  

Und für nicht Hilfebedürftige, so Schlegels nachvollziehbare Argumentation, gelte auch keine Pflicht des Staates zur Existenzsicherung vor.

Arbeitgeber sollen den Jobcentern Missbrauchsfälle melden

Bislang waren die Jobcenter teils überfordert beim Umgang mit den Kunden. Um herauszufiltern, wer wirklich nicht arbeiten könne oder wer es schlicht nicht wolle, schlägt Schlegel eine Art Meldesystem gegen Missbrauchsfälle vor: Bewerbe sich ein Arbeitssuchender mit der Frage, was man denn "hinzuverdienen“ dürfe, sei das bereits ein hinreichender Beleg, dass es jemand mutwillig auf die "Aufstockung“ einer Teilzeitbeschäftigung durch das Amt abgesehen habe. 

"Arbeitgeber müssen die Jobcenter routinemäßig darüber informieren, wie sich ein Grundsicherungsempfänger beim Vorstellungsgespräch verhalten hat“, schreibt Schlegel. Und: "Diese Rückmeldung ist Arbeitgebern auch zumutbar.“ Zum Beispiel, wenn jemand eine Vollzeitstelle haben könnte, aber nur Teilzeit arbeiten und dafür vom Amt aufstocken will.

Schon die Frage: "Was darf ich hinzuverdienen?“ vermittele, wie der Fragesteller Grundsicherung versteht, sagt das Gutachten: "Schon die Frage ist ein „No-go“.

Sozialstaat soll auch Steuer- und Betragszahler schützen

 In seinem Gutachten bricht der Sozialrechtler auch eine Lanze für jene Menschen, die den Sozialstaat mit ihrer Arbeit finanzieren und die Systeme am Laufen halten. Es werde „ausgeblendet“, dass die steuerfinanzierten Sozialleistungen möglichweise auch die "Menschenwürde“ derjenigen betreffe, "die diese Leistungen über ihre Steuern insbesondere auf zu versteuerndes Erwerbeinkommen, also aus ihrer Arbeit, finanzieren müssen.“

Auch werde gern vergessen, dass der Staat beim Bezug von Bürgergeld und Grundsicherung immer auch Beiträge für die Krankenversicherung entrichte: "Dass der Bezug von Bürgergeld zur Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung führt, ist bisher überhaupt nicht ins öffentliche Bewusstsein gedrungen“, so Schlegel. 

Für diesen Krankenversicherungsschutz würden durchschnittlich monatlich weit mehr als 350 Euro pro Person aufgewendet. Über die Zuschüsse zur Begleichung der Defizite durch den Bund zahlten auch hier die Steuerzahler erneut.

 Umziehen statt Stütze

 Mehr Flexibilität fordert die Studie auch bei den Zahlungen selbst. Durch regional unterschiedliche Pauschalen könnten ungleiche Lebensbedingungen ausgeglichen werden – etwa durch "Preiszonen“, die sich an den lokalen Mietspiegeln orientierten.  

 Zugleich sei klar: ein Single, der in einer Großstadt keinen Job finde, solle zum Umziehen in die Provinz animiert werden, anstatt ihm die hohen Mietkosten der Großstadt automatisch zu finanzieren: "Hier wäre es vertretbar, einen Umzug in eine Region mit geringeren Mieten zu verlangen“ oder nach einem Übergangszeitraum die Mietzuschüsse entsprechend zu kürzen. Außerdem animiere das den Single womöglich, in der "Provinz“ eine Arbeit anzunehmen, die dort auf ihn warte.

Zahlt die Grundsicherung Tattoos und Nagelstudios? 

Last but not least äußert der langjährige Sozialrichter Schlegel Zweifel an der Sinnhaftigkeit der bisherigen festen Sätze auf Basis der "Einkommens- und Verbrauchsstichprobe“ (EVS): "Hier wird sich unter Umständen nach der nächsten EVS die Frage stellen, ob der Steuerzahler auch für Tattoos und den Besuch von Nagelstudios aufkommen muss, Ausgaben also, die mittlerweile in allen Einkommensgruppen vorkommen und daher auch in die EVS eingehen werden.“ 

Bei der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe werden alle fünf Jahre Haushalte repräsentativ nach ihrem Einkommen und Konsumverhalten befragt.

Die Studie wird am kommenden Mittwoch von der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" vorgestellt und dürfte noch für viel Diskussionsstoff im politischen Berlin sorgen.