Kennen Sie diesen Moment, wenn Sie zehn Meinungen hören und am Ende doch das machen, was Sie von Anfang an wollten? Willkommen im Club der Menschheit. Denn laut einer internationalen Studie, die 2025 in den Proceedings of the Royal Society B veröffentlicht wurde, ziehen Menschen weltweit eine erstaunlich ähnliche Schlussfolgerung: Wir hören auf niemanden, am liebsten entscheiden wir selbst.
Ob in Deutschland, Japan oder im Amazonas-Gebiet, Menschen folgen lieber ihrer eigenen Intuition oder reflektierten Überlegung als dem Rat von Freunden, Experten oder der sogenannten „Weisheit der Masse“. Klingt nach gesundem Menschenverstand? Vielleicht. Aber es zeigt auch: Wir sind weniger rationale Gruppenwesen als wir denken.
Entscheidungen treffen: Intuition schlägt Statistik
Für die Studie wurden über 3.500 Teilnehmende aus 12 Ländern gefragt, wie sie bei Themen wie „Soll ich den Job wechseln?“ Entscheidungen treffen: Hören sie eher auf den Rat von Freunden oder auf das eigene Bauchgefühl.
Das Ergebnis: Egal, ob in individualistischen oder gemeinschaftsorientierten Kulturen, Menschen bevorzugen die eigene Einschätzung.
Das gilt besonders stark für westliche Länder wie Deutschland, Kanada oder die USA. Doch selbst in interdependenten Gesellschaften, etwa in Indonesien oder Mexiko, rangierte die persönliche Intuition knapp vor kollektiven Entscheidungen.
Studienleiter Igor Grossmann und sein internationales Forscherteam folgern daraus: „Selbstständiges Entscheiden ist der psychologische Standardmodus des Menschen.“
Mit anderen Worten: Wir glauben lieber uns selbst und das oft sogar dann, wenn wir danebenliegen.
Joern Kettler ist Wirtschaftspsychologe, Mimik-Analyst und Bestsellerautor. Als Körpersprachen- und Lügenexperte begeistert er seit über 25 Jahren mit präzisen Analysen und klaren Botschaften. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.
Warum wir lieber uns selbst vertrauen
Die Forscher verweisen auf mehrere Gründe:
- Kontrolle fühlt sich gut an: Entscheidungen, die wir selbst treffen, aktivieren unser Belohnungssystem stärker als solche, die uns abgenommen werden, sagen verschiedene Forscher. Autonomie wirkt wie ein mentaler Energieschub.
- Wir sind keine Datenmaschinen: Menschen verarbeiten Informationen selektiv und suchen Bestätigung für das, was sie ohnehin glauben. Deshalb klingt der Satz „Ich hab’s ja gleich gesagt“ nicht nur nach Selbstzufriedenheit, er ist ein neuropsychologischer Klassiker. Schon frühe Studien fanden genau das heraus.
- Ratgeber überfordern uns: In einer Welt voller Expertenmeinungen, Algorithmen und ChatGPTs (ja, ich nehme mich da nicht aus) entsteht ein paradoxes Gefühl: je mehr Input, desto größer die mentale Erschöpfung. Die Psychologie nennt das Entscheidungsmüdigkeit bzw. auf Englisch "Decision Fatigue". Unser Gehirn spart Energie, indem es irgendwann einfach sagt: „Ich mach das jetzt so.“
- Fehler tun weniger weh, wenn sie selbstverschuldet sind: Studien der Universität Toronto zeigen: Menschen bewerten Fehlentscheidungen milder, wenn sie selbst die Kontrolle hatten. Wenn aber der Tipp vom Freund kam, ist der Ärger doppelt groß.
Intuition oder länger Nachdenken – was ist klüger?
Die Studie unterscheidet zwischen Intuition („ich spüre es“) und Deliberation („ich denke es durch“). Und die Erkenntnisse der Forschendenen sagen: Beide Wege führen zum Ziel – aber nicht gleich gut.
- Intuition ist schnell, emotional, oft richtig – aber fehleranfällig. Besonders bei komplexen Problemen oder Emotionen kann sie trügen. Interessant: Menschen, die sich selbst als „intuitiv“ einstufen, treffen laut einer Metaanalyse von mehreren Forschern nicht automatisch bessere Entscheidungen, fühlen sich aber wohler damit. Das heißt: Glück schlägt Genauigkeit.
- Deliberation ist analytisch, logisch, aber langsamer. Sie schützt vor Impulsen, kann aber zu Entscheidungsvermeidungs-Overthinking führen.
Westen vs. Osten: So unterschiedlich werden Entscheidungen getroffen
Die Grossmann-Studie zeigt, dass Selbstvertrauen im Entscheiden universell ist, aber kulturell unterschiedlich motiviert. In westlichen Kulturen (z. B. Deutschland, USA) gilt Unabhängigkeit als Ausdruck von Kompetenz. In kollektivistischen Kulturen (z. B. Japan, Indien) wird das eigene Nachdenken als Weg gesehen, die Verantwortung für die Gruppe gut zu erfüllen.
Mit anderen Worten: Selbst in Gemeinschaften, die auf Harmonie setzen, entscheidet am Ende jeder lieber selbst – nur mit einem anderen moralischen Etikett.
Selbstbestimmung: Warum das manchmal gefährlich ist
So sympathisch Selbstbestimmung klingt, sie hat Nebenwirkungen. Denn Selbstüberschätzung ist eine Volkskrankheit: 88 Prozent der Autofahrer glauben laut einer ADAC-Umfrage, besser zu fahren als der Durchschnitt. Und fast jeder glaubt, seine Entscheidungen seien „logisch begründet“. Spoiler: sind sie nicht.
Der Psychologe Daniel Kahneman (der 2022 übrigens den Nobelpreis erhielt) nennt das den Illusion-of-Validity-Effekt: Wir überschätzen die Qualität unserer Urteile, weil sie sich „richtig anfühlen“. Kurz gesagt: Bauchgefühl lügt charmant.
Entscheidungen treffen: Was Sie für Ihren Alltag mitnehmen können
- Lassen Sie sich widersprechen: Fragen Sie bewusst jemanden mit anderer Meinung, nicht, um Bestätigung zu bekommen, sondern um Ihre eigene Perspektive zu challengen. Tipp: In Teams kann man den „Advocatus Diaboli“ einführen, eine Person, deren Job es ist, Gegenargumente zu bringen.
- Schaffen Sie Denkpausen: Eine Studie zeigt, dass Menschen, die nach dem Nachdenken kurz abschalten und zum Beispiel einen Spaziergang machen, bessere Entscheidungen treffen. Ihr Unterbewusstsein arbeitet währenddessen weiter – und zwar effizienter als im Dauergrübeln.
- Bauchgefühl ja, aber mit Daten abgleichen: Intuition ist wie ein Navi: nützlich, solange die Karte aktuell ist. Prüfen Sie Ihre „Gefühle“ gegen Fakten, vor allem bei großen Entscheidungen im Job, in der Beziehung oder beim Thema Finanzen.
- Erkennen Sie den Punkt, an dem genug Information da ist: Perfekte Entscheidungen gibt es nicht. Irgendwann kippt Information in Überforderung. Dann hilft nur noch: machen statt zögern.
- Sagen Sie sich nicht „Ich sollte ...“, sondern „Ich werde ...“: Sprache beeinflusst Handlungsbereitschaft – „Ich sollte“ ist passiv, „Ich werde“ aktiviert Verantwortung.
Fazit: Vertrauen ist gut, Realität ist besser
Menschen entscheiden weltweit lieber selbst. Das ist gut, weil es Autonomie, Selbstvertrauen und persönliche Zufriedenheit fördert. Aber es ist auch riskant, weil wir dadurch leicht in unsere eigene Denkblase geraten. Wenn Sie also das nächste Mal sagen „Ich vertraue meinem Bauchgefühl“, dann hören Sie ruhig darauf. Aber gönnen Sie Ihrem Gehirn ein Mitspracherecht. Denn Intuition ist wunderbar, solange sie mit Verstand gewürzt ist.