Im Herbst 1944 liegt ein unangenehmer Geruch in der Luft rund um das oberschlesische Dorf Boyszowy. Jeder in der Gegend hier weiß, woher er kommt, denn die Hölle auf Erden liegt gleich um die Ecke: das Vernichtungslager Ausschwitz.
Hier ermorden die Deutschen täglich jüdische Häftlinge mit Gas und verbrennen die Leichen dann in großen Öfen. Was dort passiert, kann den Menschen, die in der Nähe leben, gar nicht verborgen bleiben und so ist auch Wiktor klar, dass in diesem riesigen Lagerkomplex Menschen auf brutale Weise umgebracht und ihre Leichen verbrannt werden, nur weil sie Juden sind.
Wiktor wird für die deutsche Wehrmacht eingezogen
Wiktor ist 17 Jahre alt, in Boyszowy geboren und Staatsbürger des Landes, das von den Deutschen seit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges im September 1939, also seit fünf Jahren, mit größter Brutalität besetzt ist: Polen.
Im November 1944, der Name seines Heimatdorfes ist längst in Boischow eingedeutscht, zieht er wie sein älterer Bruder Franciszek und so viele junge Männer aus seiner Gegend, in den Krieg. Aber nicht für das angegriffene, unterdrückte und ausgebeutete Polen, das so viele menschliche und materielle Verluste erleidet und zu dem die Region Oberschlesien gehört – sondern für Nazi-Deutschland.
Denn Wiktor wird in die die deutsche Wehrmacht eingezogen und in den Krieg geschickt. Gefragt, ob das seinem Willen entspricht, hat ihn niemand. Und freiwillig ist sein Kampf auch nicht.
Thema in Polen lange verschwiegen
Noch fast 75 Jahre später, als er sich 2016 endlich erstmals für ein Interview zur Verfügung stellt, will Wiktor lieber seinen Nachnamen nicht in der Öffentlichkeit lesen. Es dauert überhaupt bis Anfang der 2010er Jahre, ehe er das erste Mal über seine damaligen Erlebnisse spricht.
Zu dieser Zeit wird in Polen ein Thema erstmals seit dem Ende des Krieges in Erinnerung gerufen, das bis dahin systematisch verschwiegen wurde: Dass rund eine halbe Millionen Männer mit polnischer Staatsangehörigkeit während des Zweiten Weltkriegs in der Wehrmacht für Adolf Hitler kämpften.
Wiktors Vorsicht hat einen guten Grund, denn dieser historische Fakt erhitzt die Gemüter im Lande und jeder, der zugibt, damals in der Wehrmachtsuniform gekämpft zu haben, lebt in der Gefahr, öffentlich als „Verräter“ beschimpft und bloßgestellt zu werden.
Daran hat sich auch heute, rund 15 Jahre, nachdem den Kattowitzer Historiker Alexander Kaczmarek ein höchst umstrittenes, gut recherchiertes Buch über das Thema veröffentlichte, nichts geändert.
Polnische Soldaten für die Wehrmacht? Thema sorgt für Ärger
Das zeigt gerade eine neue Kontroverse, nachdem im vergangenen Sommer in Danzig eine kleine Ausstellung eröffnet wurde, die das Schicksal dieser polnischen Männer beschreibt. „Unsere Jungs“ sorgte sofort für lautstarke Kritik, sogar von ganz oben, nämlich vom damaligen Staatspräsidenten Andrzej Duda von der rechtspopulistischen Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS).
Die Behauptung, Polen hätten in der Wehrmacht gekämpft, sei eine Provokation und eine historische Unwahrheit, wetterte Duda. Und auch Verteidigungsminister Władysław Kosiniak-Kamysz von der Mitte-Links-Regierung wies die Behauptung zurück.
Und doch haben der Historiker Kaczmarek und der Kurator der Danziger Ausstellung, Andrzej Hoja, die historischen Fakten auf ihrer Seite. Denn tatsächlich kämpften hunderttausende in Polen geborene Männer in den Reihe des Todfeindes, der Wehrmacht. Aber wie konnte das sein? Wie war das möglich?
Nazi-Deutschland brauchte dringend neue Soldaten
Die Wehrmacht benötigt dringend Soldaten, denn Deutschland ist mit dem Kampf an vielen verschiedenen Fronten heillos überfordert. Und die NS-Führung ist durchaus einfallsreich, wenn es darum geht, diese Soldaten für den Krieg zu requirieren.
Als Hitler im Frühjahr 1941 den Angriff auf die Sowjetunion, der am 22. Juni beginnt, vorbereiten lässt, erlässt die Regierung in Berlin ein Gesetz, in dem die Voraussetzung dafür geschaffen wird. Es teilt die Bevölkerung in den vom Deutschen Reich annektierten Gebiete Polens in vier Kategorien ein.
In Liste 1 werden sogenannte Bekenntnisdeutsche aufgeführt. In Liste 2 werden jene Personen gesteckt, die an der deutschen Sprache und Kultur festgehalten haben, als ihre Region nicht zu Deutschland gehörte.
Die Menschen auf diesen beiden Listen werden zu deutschen Staatsbürgern mit fast allen Rechten erklärt. Liste 4 hingegen umfasst die „Renegaten“, die aus NS-Sicht zwar deutschstämmig, aber „ins Polentum abgeglitten“ sind.
Die größte Gruppe wird in Liste 3 erfasst. Diese Personen bekommen die deutsche Staatsangehörigkeit eingeschränkt und auf Widerruf, wobei ihre Rechte im Verlauf des Krieges zunehmend ausgeweitet werden.
Für junge Männer bedeutet das „Recht“, deutscher Staatsbürger zu sein, allerdings in erster Linie die Pflicht, Kriegsdienst für das Dritte Reich zu leisten. Die meisten dieser jungen Männer kommen aus Oberschlesien, denn die Region hat eine wechselvolle Geschichte zwischen Deutschland und Polen.
Zwischen zwei Welten
Viele fühlen sich dadurch weder als Polen noch als Deutsche. Ihre Eltern wurden oft vor 1918 als Deutsche geboren, als Oberschlesien zum Deutschen Reich gehörte. Sie selbst aber kamen, nachdem das Gebiet nach 1918 an das wiedererstandene Polen angegliedert wurde, als Polen zur Welt.
Was nun – Deutsche oder Polen? Manche tendieren zu der einen Seite, manche zur anderen. Für viele lautet die Antwort aber: weder noch. Sie fühlen sich als Oberschlesier, sprechen einen eigenen Dialekt, der für Polen schwierig zu verstehen und mit deutschen Begriffen durchsetzt ist.
Gefragt, ob sie wirklich Deutsche werden wollen, werden die Männer nicht. Auch nicht, ob sie in der Wehrmacht kämpfen wollen. Die meisten nehmen es einfach hin – ändern können sie es ohnehin nicht. „Was sollten wir tun? Wir bekamen Befehle und musste sie befolgen“, erinnert sich Jan Norek, der ebenfalls aus Boyszowy stammt. „Ich hatte nur ein Ziel: Den Krieg zu überleben und heil wieder nach Hause zu kommen.“
Gegenwehr gegen den Einberufungsbefehl sei in der Tat unmöglich gewesen, sagt auch Alexander Kaczmarek, „denn die Deutschen reagierten auf Verweigerungsfälle mit strikten Sanktionen, im schlimmsten Fall bis hin zur Einweisung in ein Konzentrationslager“.
Und auch die Verwandten lebten in der Gefahr, von scharfen Sanktionen getroffen zu werden. Deswegen wehren sich nur selten Betroffene dagegen, in die deutsche Armee eingezogen zu werden. Wahrscheinlich, so glaubt Jan Norek, hätten sie sich ebenso wenig dagegen gewehrt, auf polnischer Seite kämpfen zu müssen. „Es war halt Krieg und man tat, was einem befohlen wurde“, ergänzt Wiktor.
Auch bei den Deutschen unbeliebt
Die polnischen Soldaten werden an mehreren Fronten des Krieges eingesetzt und oft von den Deutschen scheel angeguckt, da sie sie nicht als Deutsche sehen und sie nicht einmal Deutsch sprechen. Jan Norek wird in der Schlacht am Monte Cassino mitten in Italien, einer der schlimmsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs, eingesetzt. Er wird verletzt, kommt in amerikanische Kriegsgefangenschaft.
Während er in Italien kämpft, stellt Norek fest, dass er nicht nur auf Amerikaner, Franzosen, Kanadier und Italiener schießt, sondern auch auf Polen. Denn polnische Soldaten kämpfen hier auf beiden Seiten: gezwungenermaßen für die Wehrmacht, freiwillig für die Alliierten. Eine ebenso skurrile wie schwierige Situation für die jungen Männer.
Jan Norek überlebt den Krieg und kehrt 1946 in seine Heimat zurück. Andere aus seiner Heimat haben weniger Glück. Der Blutzoll, den das kleine Dorf Boyszowy erleidet, ist hoch. Von den 500 Männern, die von der Wehrmacht eingezogen wurden, sterben 60 an den Fronten des Krieges.
Viele der eingedeutschten Polen, die in Gefangenschaft geraten, lassen sich dort von den Alliierten rekrutieren und ziehen ein zweites Mal in den Krieg – aber diesmal nicht für, sondern gegen Nazi-Deutschland. So auch Wiktors Bruder Franciszek. „Als wir im Kriegsgefangenenlager in England interniert waren, warfen die Engländer mit Steinen auf uns, wir hatten ja deutsche Uniformen an. Sechs Wochen später trug ich eine polnische Uniform“, erinnert sich Franciszek.
„Keine Frage, dass wir für Polen kämpfen wollten“
Entweder, man sei als Sklave der Engländer in Gefangenschaft geblieben – oder man zog in der polnischen Armee wieder raus in den Krieg, nun gegen die Deutschen. „Ich wollte lieber kämpfen. Wir waren ja vorher schon alle in den Baracken der Polen untergebracht gewesen. Da war es gar keine Frage, dass wir für Polen kämpfen würden“.
Wiktor und Franciszek gelangen beide wenige Monate nach Kriegsende innerhalb einer Woche unversehrt nach Hause. Wiktor: „Die Freude war sehr groß. Dass der eine in der Uniform der Wehrmacht zurückkam, der andere in der der polnischen Armee, war uns völlig egal. Hauptsache, wir hatten überlebt.“
Hanna Reitsch
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