Dietmar Woidke regiert seit einem Dutzend Jahren sein Brandenburg. Er ist Deutschlands dienstältester sozialdemokratischer Ministerpräsident. Der Mann hat an Jahren mehr Regierungserfahrung als der Bundeskanzler an Monaten.
Dies nur vorweg: Man sollte Woidke ernst nehmen, bevor er Regierungschef wurde, war er Landesinnenminister, was wichtig ist, wenn man sich als Spitzenpolitiker Gedanken macht über die AfD, die sein brandenburgischer Verfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestuft hat.
Merz, ein SPD-Mann und die AfD-Debatte
Woidke holt mehrere Male sein Landtagsmandat direkt, was für seine fortgesetzte Volksnähe spricht: Wer die Kraft hat und das Selbstbewusstsein, seinen Wahlkreis in Volkswahl im unverstellten Kampf gegen die Konkurrenz für sich entscheiden, hat es nicht nötig, als Apparatschik Diener seiner Partei zu sein. Erfolg macht frei.
Woidke ist der erste Regierungschef Deutschlands, der sich eine Zusammenarbeit mit der AfD vorstellen kann. Weshalb das schlau ist, kann man an Friedrich Merz erkennen: Dessen CDU ist gegen die AfD bislang nichts eingefallen, jedenfalls nichts, was deren für eine Neu-Partei historisch einmaligen Aufstieg hätte bremsen können.
Merz hält an der Selbstfesselung seiner Partei fest, die bislang erkennbar nur seiner Konkurrenz nutzte – und obendrein die konservativen Teile der eigenen Anhängerschaft frustrierte.
Geschickt dreht Woidke die AfD-Debatte um
Was hat Woidke gesagt? Dies hier: „Die AfD hat es in der Hand. Sie selbst hat es in der Hand, die Brandmauer noch heute überflüssig zu machen“, sagte der SPD-Mann an diesem Montag – parallel zu der Veranstaltung, bei der Merz zum selben Thema wenig Neues zu verkünden hatte. Und dann der entscheidende Satz, Woidkes Bedingung: „Indem sie alle Extremisten, alle Neonazis, alle ehemaligen NPD-Mitglieder und viele andere, die diesen Staat verachten, die die Demokratie und die Freiheit verachten, rausschmeißen.“ Denn: „Mit Extremisten kann es keine Zusammenarbeit geben.“
Was die Haltung von Woidke gegenüber der ‚AfD von der Haltung des Friedrich Merz unterscheidet, ist dies: Woidke hält sich nicht mit der Frage auf, ob die AfD eventuell der „Hauptgegner“ seiner SPD ist oder nicht. Er fragt sich, unter welchen Gesichtspunkten diese AfD ihm nützlich sein könnte. Unter dem Aspekt der Machterhaltung – immer noch der wesentliche Daseinszweck von Parteipolitik - ist das wahrscheinlich die intelligentere Attitüde.

Woidke hat sich nun keineswegs für ein Bündnis mit der AfD ausgesprochen, was ihm am allerliebsten Grüne und Linke andichten wollen, vermutlich aus Eigeninteresse. Diese Parteien sind Woidke ohnehin gram, denn Woidke regiert mit der Wagenknecht-Truppe.
Auch hat Woidke einen astreinen Anti-AfD-Werdegang. Vor der letzten Landtagswahl kündigte er seinen Abschied aus der Politik an, für den Fall, dass diese Partei an ihm vorbeizöge: „Mein Ziel ist es, gegen die AfD zu gewinnen. Und wenn ich gegen die AfD verliere, bin ich weg.“ So etwas nennt man Körpereinsatz.
Man muss Dietmar Woidke dankbar sein – er stellt die öde, phantasielose, wählerferne Debatte um die AfD auf eine vollkommen neue Grundlage. Ein Ansatz, für den sehr viel spricht, gerade, wenn man der Regierungschef einer von Sozialdemokraten geführten Koalition ist.
Denn der Zeitgeist weht, wo er will, zurzeit aber rechts. Und dies nicht nur in Deutschland, sondern in großen Teilen Europas. Die Bürger haben offensichtlich Anlass, mit dem Linksregiertwerden grundsätzlich unzufrieden zu sein.
Als Sozialdemokrat setzt man sich besser mal mit so etwas auseinander, sonst ist die eigene Zeit an der Macht endlich. Dafür braucht man Phantasie und Flexibilität im Kopf – und offensichtlich verfügt Woidke über derlei Tugenden, sonst hätte er es kaum in eine Koalition mit der Wagenknecht-Partei geschafft.
"Die AfD hat es in der Hand"
Woidke stellt die Auseinandersetzung mit der AfD auf eine neue Grundlage. Und die CDU gibt ihm völlig recht, obwohl sie in Brandenburg in der Opposition ist. Ein bemerkenswerter Vorgang.
Am wenigsten konnte man eine solche Wendung in einer solch grundlegenden Frage aus der Sozialdemokratie erwarten. Denn mindestens im Bund lebt die SPD gut davon. Solange die sogenannte Brandmauer steht, wird Deutschland mindestens halblinks regiert, auch wenn es vollrechts gewählt hat.
Für die SPD hat das einen doppelten Vorteil: Sie hat viel mehr Macht, als die Wähler ihr gaben. Und: Sie muss sich über die Gründe für ihre grundstürzende Schwäche nicht einmal Gedanken machen.
Woidkes Debatten-Wendung ist verdienstvoll, weil er die Täter-Opfer-Perspektive herumdreht. Heute lebt die AfD ganz hervorragend von ihrem Opfer-Status, an dem im Bund Union und SPD kräftig mitgewirkt haben – etwa durch die Verweigerung parlamentarischer Mitwirkung in Führungsämtern – oder bei der kleingeistigen Zuteilung von Fraktionsräumen.
Woidke macht aus dem Opfer den Täter – die AfD macht sich in seiner Optik selbst zum Opfer, indem sie darauf beharrt, gegen ihre irrlichternden Figuren nichts unternehmen zu müssen.
Die linke Verantwortung am Aufstieg der Rechten
Woidke sagt ihnen: Trennt euch von euren Verrückten, dann könnt ihr auch regieren.
An dieser Stelle kurz das Zitat des christdemokratischen Fraktionschefs im Brandenburger Landtag, Jan Redmann, mit dem er Woidke im Grundsatz recht gab: Dessen Position sei nicht unmoralisch, sondern vielmehr demokratisch. Der „moralische Zeigefinger von links“ habe der AfD nur stets mehr Wähler zugeführt. Empirisch betrachtet, ist daran alles richtig.
Über die linke, die sozialdemokratische und grüne Verantwortung für den Aufstieg der AfD zur Volkspartei schreibt die FAZ zur historiografischen Klarstellung dies: „Nichts hat die AfD in den vergangenen Jahren überall in Deutschland so sehr erstarken lassen wie die Mischung aus Ignoranz gegenüber den Sorgen der Mehrheit der Bürger bei gleichzeitiger Hätschelung von Minderheiten, wie sie die Ampelkoalition fast vier Jahre lang zu ihrem Programm erkoren hat.“
Was Dietmar Woidke sagt, entspricht im übrigen auch europäischen Erfahrungen: Seitdem Frankreichs "Rassemblement National" Antisemiten und Neofaschisten gezielt hinausgeworfen und einen Frexit, den französischen Austritt aus der Europäischen Union, abgeschworen hat, buhlen nun Frankreichs Konservative um eine Koalition mit der Le-Pen-Truppe. Und Italiens erste Frau an der Spitze der Regierung, Giorgia Meloni, ist längst zu einer der angesehensten europäischen Führungsfiguren aufgestiegen. Sie sagt auch nicht mehr, Hitler-Kumpel Mussolini sei ein „guter Politiker“ gewesen – „der beste der letzten 50 Jahre“.
Parteien ändern sich – übrigens permanent. Auch diese Altersweisheit steckt hinter Woidkes Wende.
Auch SPD und Grüne mussten erst regierungsfähig werden
Die SPD hat längst vergessen, dass sie die ersten zehn Jahre bundesrepublikanischer Geschichte nicht regierungsfähig war. Die SPD war eine nationale, sozialistische Partei – bis sie im Godesberger Programm 1959 ihren Frieden mit Deutschlands Westbindung, der Nato und der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsverfassung machte.
Ohne ihre grundlegende Wende, in einem schmerzhaften Prozess aus Häutung und Selbstfindung, wäre Willy Brandt noch einmal zehn Jahre später kaum Bundeskanzler geworden.
Dasselbe geschah mit den Grünen, die Anfang der 80er Jahre eine wilde Mischung aus Friedens- und Müsli-Fundamentalisten waren, mit kommunistischen Irrlichtern in ihren Reihen, auch Päderasten fanden eine Heimat. Bevor der Sozialdemokrat Holger Börner in Hessen mit Joschka Fischer koalierte, wollte er die grüne Truppe „mit der Dachlatte“ aus dem Landtag jagen. Johannes Rau redete auch nicht viel netter über die aus seiner Sicht weltfremden, von ihren bürgerlichen Eltern unerzogenen Wohlstandskinder.
Sowohl die SPD wie auch die Grünen mussten erst einmal regierungsfähig werden. Sie mussten sich von ihren Illusionen verabschieden, zu realistischen Programmen finden und wählbare Eliten hervorbringen.
Die AfD dürfte national bleiben
Diese Möglichkeit hat die AfD auch – eine Abkehr von allem Unverdaulichen wäre ein sichtbares Zeichen zugleich für die Stärke und Integrationskraft der Demokratie.
Zur Klarstellung: Die AfD dürfte national bleiben, denn an „Brüssel“ mag vieles richtig sein, aber auch vieles falsch. Sie dürfte auch russlandfreundlich bleiben, das war die SPD auch einmal, es ist nicht so lange her. Sie dürfte auch Zweifel nähren an der Weisheit der Parteienherrschaft, denn die führt gerade zu einer nie dagewesenen Vertrauenskrise in die Demokratie.
Mit anderen Worten: Die AfD dürfte – und sollte – rechts bleiben, in dem Sinne, wie linke Parteien auch links bleiben dürfen und sollten.
Auf Woidke reagierte auch die AfD selbst. Deren Landeschef René Springer machte deutlich, dass er nicht daran denkt, Extremisten aus seiner Partei zu entfernen. Diese gebe es nämlich gar nicht.
Man muss sagen: So geht es nicht. Da ist Woidke, der an diesem Mittwoch seinen 65. Geburtstag feiert, schon erheblich weiter.