„Ein Heimatabend“: Das Tübinger LTT brilliert mit dem Stück „... worin noch niemand war“. Das Gastspiel im Landsberger Stadttheater begeistert.
Landsberg – Worte sind Hülsen. Sie selbst und das, was sie bezeichnen, sind uneins. Differieren schon die Vorstellungen von etwas so vermeintlich Klarem wie „Brot“, wird es bei Abstraktem noch kniffliger. Zum Beispiel bei „Heimat“. Was hinter dem Begriff steckt (oder was nicht), hat Jörn Klare in „... worin noch niemand war – ein Heimatabend“ für das LTT herausgearbeitet. Klug, vielschichtig, überraschend leicht – und hoffnungsvoll. Ein großartiger Abend.
Jörn Klares Heimatabend im Stadttheater Landsberg: Mit Ernst per Du
Schon diese fiese Schmeißfliege stört die Vogelgezwitscher-Heimatidylle. Und dann müssen die Kirchturmglocken auch noch gegen Verkehrslärm anbimmeln. Heimat ist zwiespältig, das machen schon die ersten Momente in Sascha Flockes Inszenierung klar. Dazu dieser verfremdete, brecht‘sche bis rockige Schubert, der den Abend begleiten wird. Zu Beginn das „Gute Nacht“ der Winterreise, vom Ensemble zu futuristisch-waberndem Synthi gesungen. „Fremd bin ich eingezogen, Fremd zieh‘ ich wieder aus“: die Worte, die den Abend rahmen. Denn Heimat, war der in Tübingen lebende (und sterbende) Ernst Bloch sicher, bleibt unerreicht.
Bloch ist der Ehrengast an diesem exzellenten, wunderbaren Theaterabend. Alle warten auf ihn – ohne Landstraße, ohne kahlen Baum. Aber ‚Ernst‘ (so viel Vertrautheit darf das Tübinger LTT schon wagen) verspätet sich, wie das Ensemble in den das Stück durchbrechenden Telefonanrufen des Philosophen erfahren muss. Dann eben ohne ihn, sagen sich Insa Jebens, Rolf Kindermann, Leo Kramer, Sarah Liebert und Gilbert Mieroph – die sich an diesem Abend als Rolle ‚selbstfremd‘ (Stichwort Identität) selbst spielen und zum Sprachrohr anderer und deren Heimat-Begriffe werden.
Die Heimat-Definitionsversuche werden ihnen über Kopfhörer eingeflüstert: Inhalte aus Gesprächen mit Menschen, die der Autor Klare bei seiner Recherche im ‚Ländle‘ getroffen hat. Die Dorfbewohnerin, die raus wollte und wieder in die Enge zurückkehrt. Sprache als Heimat, die schon beim Umzug ins Nachbarbundesland verloren gehen kann – Heimat als Ausgrenzung. Geflüchtete, die ihre Heimat an Krieg und Angst verloren haben. Der digitale Nomade (zwischen den Wellenrausch- und Papageienlauten seiner Mitspieler), die Heimat im Nirgendwo des Laptops. Heimat historisch gesehen, Heimat im Blut-und-Boden-Begriff der NS-Zeit. Oder Heimat als verortete Erinnerung an das Groß-Werden, erste Worte, Gefühle, Erfahrungen, im Nachhinein zum Ideal verklärt. Aber „was für ein Mensch wärst du ohne diesen Ort“, fragt das grandios zwischen Spiel und Dokumentationstheater agierende Ensemble.
LTT mit Heimatabend im Landsberger Stadttheater: Ernst Bloch hoch vier
Und immer wieder blitzt der Humor. Im Warm-Up-Acting zum Thema „heimelig“, nicht zu verwechseln mit heimlich – ja, auch Etymologie lernt das Publikum an diesem facettenreichen Abend. Oder in der brillanten Szene, in der Kindermann in die Rolle „Heimat“ schlüpft und ein ‚Beziehungsgespräch‘ mit Liebert führt: „Ich habe dich vermisst.“ – „Du hast mich verlassen.“ Und: „Ich hatte dich größer in Erinnerung.“

Während des Kreisens um den Begriff „Heimat“ werden Bäume gepflanzt, Rollrasen ausgerollt, Hauswände aufgestellt und verschoben: Machen wir es uns heimelig, in Jogginghose und Jeans (Bühne und Kostüme: Doreen Back). Ein „Heim“, das nicht standhält, wenn am Ende der Hausbauversuch krachend in sich zusammenstürzt.
Heimat ist nichts Festes. Oder wie ‚Friedrich‘ (Hölderlin, auch mit ihm ist das LTT per Du) am Telefon sagt: Heimat als „Zustand der Seele, die ständige, nie vollendete Rückkehr ins innere Zuhause“. Vielleicht, so ist an diesem Abend zu hören, ist Heimat auch der Ort, wo man begraben sein möchte. Hölderlin, im Refugium des Hölderlinturms gestorben, liegt auf dem Tübinger Stadtfriedhof; Ehrengast Bloch auf dem Tübinger Bergfriedhof. Ob ihnen Tübingen Heimat war?
Am Ende kommt Bloch doch noch, und das hoch vier: Jebens, Kindermann, Liebert und Mieroph zitieren und lesen aus Blochs „Prinzip Hoffnung“: Heimat, heißt es da, sei ein Zustand der Versöhnung, den wir immer neu erschaffen müssen, der Ort der besseren Zukunft, „an dem noch niemand war“. Dass es diesen Ort dennoch gibt, müssen wir hoffen können, auch wenn es zum Konzept „Hoffnung“ gehört, dass sie enttäuscht werden kann. Als Rezept empfiehlt der Philosoph: ins Gelingen verliebt sein. „Optimismus mit Trauerflor, kämpfend.“
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