Genets „Die Zofen“ kann man als Widerstandsdrama spielen: Diener übernehmen die Macht – auch über ihr Leben. Oder man setzt auf das absurde Rollenspiel, mit dem Claire und Solange – als gnädige Frau und Claire – sich ihrer selbst ermächtigen. LTT-Intendant Thorsten Weckherlin setzt auf Variante zwei, treibt sie auf die Spitze – und darüber hinaus.
Landsberg – Die Mäuse, die bei Jean Genets Tragödie „Die Zofen“ auf dem Tisch tanzen, während Gnädige Frau aus dem Haus ist, treiben es besonders bunt: expressiv, erotisch, masochistisch, sadistisch, liebevoll, verzweifelt. Ist es sonst die Herrin, die Solange und ihre jüngere Schwester Claire lobt und quält, streift sich Claire in Abwesenheit der ‚Gnä Frau‘ das graue Dienstkleid ab und schlüpft in die mondänen Roben der Herrin, während Solange versucht, mit ellenbogenlangen Gummihandschuhen als Claire das masochistisch-sadistische Rollenspiel zu meistern.
Landestheater Tübingen mit Genets „Zofen“ zu Gast in Landsberg: Spiel der Identität
Den Herrn des Hauses haben die Schwestern bereits mittels anonymer Briefe hinter Gitter gebracht. Nun steht Madame auf der Abschussliste: nicht mit einer Kugel – selbst die Pistole ist, als Feuerzeug, nur ein ‚Spiel-Zeug‘ –, sondern mit dem vergifteten Lindenblütentee. Doch der Gatte macht den Plan zunichte: Er ist auf freiem Fuß, was Gnädige Frau so entzückt, dass sie ohne Tee zum Champagnerschlürfen entflieht – nicht ohne zuvor das Spiel der Schwestern samt ihren kriminellen Taten zu entlarven. „Es ist zu spät, wir sind verloren“, entgegnet Claire auf Solanges Fluchtpläne. Das Spiel hält sie gefangen, die Regeln dürfen nicht gebrochen werden („Wir nehmen nicht das Geld, wir sind keine Diebe“), „es bleibt uns nur übrig, dieses Leben fortzusetzen, das Spiel weiterzuspielen“, konstatiert sie – und trinkt, konsequent in ihrer Rolle als Gnädige Frau, den vergifteten Tee.
Dass Regisseur Weckherlin den Schwerpunkt auf das Spiel, auch selbstreferenziell auf das Theaterspiel setzt, ist nachvollziehbar. Er inszeniert ein mystisch-brutales, absurdes Spiel der Schwestern, das als erster und dritter Akt den Auftritt der Herrin rahmt: theatralisch durch zwei sichtbare Spots auf der Bühne in kaltes Licht getaucht. Claire ist Herrin, Solange ist Claire – und immer wieder brechen sie das Spiel und wechseln die Rolle –und damit die Identität.
Auf diesem Spiel-Konstrukt sitzt das Theaterspiel, das die drei Schauspielenden bravourös meistern: Insa Jebens spielt Solange, die im Spiel als Claire demütig der Herrin untergeben ist und auch in der ‚Realität‘ des Stückes Claires Spielzwang folgt – und weiterdreht: Claires „Ich kann dieses Spiel nicht weiterspielen“ karikiert Solange, indem sie Claire – gespielt – erwürgt. Und sich als „die Le Mercier“, die berühmte Verbrecherin inszeniert, „ebenbürtig mit der Gnädigen Frau“. Franziska Beyer spielt ihre Claire berauscht, übertrieben, als Karikatur der Gnädigen Frau – und letztendlich als diejenige, die Spiel über Realität setzt und vereint: indem sie den tödlichen Tee trinkt.
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Vinzenz Hegemanns Kostüme und Bühnenbild, samt Schiffe-versenken-Kleiderschrank in Tübinger Kaufhaus-Zinser-Optik und Riesenschminkspiegel mit Aktenzeichen-xy-Einblendungen, schafft eine surreal anmutende und somit perfekte Szenerie. Dass Weckherlin die Gnädige Frau in diesem inszenierten Gesamtbild als seinem Modelevel getreu ‚POMPÖÖS‘en Harald Glööckler (Martin Bringmann) – die Inszenierung per se – zu Queens „Bohemian Rhapsody“ auftreten lässt, ist ein Hingucker und konsequent. Aber es raubt in dieser Exaltiertheit dem Spiel der Schwestern den Raum: All eyes on Glööckler, das gruselige Unbehagen, die ziselierte Absurdität des Schwestern-Spiels, das Jörg Wockenfuß‘ Musik massiv verstärkt, taucht ab – wodurch die Inszenierung an Tiefe verliert. Am Ende bleibt dem Publikum ein Fragezeichen. Und das Bild aufgespritzter Lippen, die alles in sich aufsaugen.
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