Putins nächstes Ziel? In dieser EU-Stadt liegen schon Evakuierungspläne bereit
Sie liegt am östlichsten Punkt von Estland und direkt an der Grenze zu Russland, die Stadt Narwa. Nur ein Fluss trennt die beiden Länder voneinander, verbunden durch eine 101 Meter lange Brücke – die „Brücke der Freundschaft“.
Doch momentan wirkt der Begriff Freundschaft deplatziert: Narwa bereitet sich auf einen militärischen Angriff von Russland vor. Das berichten unter anderem die „FAZ“, „Welt“ und „ARD“.
Drittgrößte Stadt Estlands direkt an Grenze zu Russland
In Estland leben 1,3 Millionen Menschen. Und auch wenn Narwa die drittgrößte Stadt Estlands ist, wohnen hier nur 52.000 Einwohner. Nirgendwo anders in der EU sprechen so viele Menschen russisch wie in Narwa. Daher wird die Stadt als prorussisch angesehen.
„Jeder fünfte gilt als Moskau-treu“, heißt es in einem Beitrag von „phoenix", dem Gemeinschaftsprogramm von ARD und ZDF. Taxifahrer Sergei, der in dem Film zu Wort kommt, glaubt deswegen auch nicht an einen Angriff der Russen. „Wir sind Russen“, sagte er.
Katri Raik, 58 Jahre alt und ehemalige Innenministerin Estlands, ist Bürgermeisterin der Stadt. Sie sieht das Verhältnis zu Moskau kritisch. Gegenüber der „FAZ“ sprach sie davon, dass Russland die Stadt Narwa provoziert.
Narwa bereitet sich auf Angriff von Putins Truppen vor
So hätten russische Behörden die Schleusen der Wasserwerke geöffnet, damit Hochwasser im Fluss entsteht. Russische Soldaten sollen dafür gesorgt haben, dass Bojen, die als Grenzmarkierung zwischen Russland und der EU dienen, verschwunden sind. Russische Grenzboote würden patrouillieren und andere Schiffe begleiten, schreibt die „Welt“, ebenfalls im Gespräch mit Raik.
Die Brücke zwischen Estland und Russland kann laut Raik nur noch zu Fuß überquert werden. Am Kontrollpunkt im Stadtzentrum würden die Grenzübergänger stundenlang warten. Statt sechs russischen Kontrollpunkten hat nur noch einer geöffnet. Einst passierten jährlich 4,5 Millionen Menschen die Grenzen. Heute sind es nur noch etwa eine Million pro Jahr.
Zeichen der Verhärtung zwischen Russland und Estland
Es sei komplizierter geworden, nach Russland zu reisen, erklärte die 73-jährige Galina gegenüber der „Welt“. Ihre Kindheit verbrachte sie auf der anderen Seite des Flusses. „Ich habe viele Verwandte in Sankt Petersburg.“ Und auch Aleksej erinnert sich, dass das Überqueren der Grenzbrücke damals keine große Sache war. „Kaum zu glauben, dass das erst ein paar Jahre her ist.“
Wird Russland, das seit mehr als drei Jahren einen Krieg in der Ukraine führt, die Nato mit einem Angriff auf die estländische Stadt testen wollen? Wird Wladimir Putin behaupten, die russischsprachigen Bürger in Narwa beschützen zu wollen? Schließlich liegt Narwa an der Außengrenze der EU und der Nato. 96 Prozent der Einwohner sprechen Russisch. 89 Prozent der Bevölkerung haben russische Wurzeln.
Putin betrachtet Estland als „historisch russisches Gebiet“
Bereits in der Vergangenheit habe Putin Estland als „historisch russisches Gebiet“ bezeichnet, berichtet die „FAZ“. Auch wenn die Angst da ist. An ein solches Szenario würden die Einwohner nicht glauben, erklärt Raik der Zeitung. Dennoch: Man bereitet sich auf den Ernstfall vor.
Laut Medienberichten hat die Stadt Narwa Evakuierungspläne erarbeitet und entsprechende Szenarien bereits trainiert. Außerdem plane die estnische Armee nahe der Stadt eine Militärbasis.
Auf einem „Europatag“ Anfang Mai warben Polizei und Armee unter Jugendlichen um Nachwuchs. Ein Stand informierte über Themen wie: Überleben ohne Strom und ohne Trinkwasser. Parallel wurde bei der Veranstaltung auch gegen Putin protestiert, berichtet die „ARD“. An der Wand des Museums in Narwa hing ein Plakat. Es zeigte das Gesicht von Wladimir Putin neben dem von Adolf Hitler.
Plakat zeigt Wladimir Putin neben Adolf Hitler
Die Abgrenzung findet auch im politischen Raum statt. So beschloss das estnische Parlament im vergangenen Jahr, Estnisch als alleinige Unterrichtssprache festzulegen und Lehrer zu entlassen, die ausschließlich Russisch sprechen. Im Beitrag der „ARD“ wird berichtet, dass sowjetische Denkmäler entfernt wurden. Die Bürgermeisterin von Narwa hält die Beschlüsse für eine Kurzschlussreaktion.
Zwar herrscht in Narwa eine hohe Arbeitslosigkeit (14 Prozent), was viele auf die EU und insbesondere den „Green Deal“ schieben. Während einige behaupten, nur Russland könne wieder alles in Ordnung bringen, widersprechen andere. „Alle schimpfen auf den estnischen Staat“, sagte etwa Raik der „FAZ“. Dennoch: „Nach Russland ziehen will deshalb noch lange keiner.“

„Wenn sie kommen, werde ich kämpfen“
Mit seiner Lage habe die Stadt Narwa eher an Chancen und weniger an Risiken geglaubt: Wortwörtlich war sie eine Brückenstadt. Menschen, die einen Zugang zum europäischen Markt suchten, ließen sich in Narwa nieder. Darunter waren auch russische Unternehmen. Die Grenze war keine Hürde.
Raik sagte der „FAZ“: „Wir hatten das Gefühl: Ohne uns geht nichts.“ Doch seit dem 24. Februar 2022, dem Tag, an dem Russland die Ukraine angegriffen hatte, sei das Verhältnis zu Moskau schwer belastet.
In der Stadt Narwa werde über das Thema Krieg in der Ukraine nicht gesprochen und das Wort Krieg umgangen. Das sagen Iwanow und Raik der „FAZ“. Trotzdem bereite sich die Stadt auf den Ernstfall vor, sollte Russland Narwa angreifen.
Im Gespräch mit der „FAZ“ sagt der Journalist Iwanow: „Wir sprengen einfach die Brücke und dann war’s das.“ Dann könnten zumindest russische Truppen nicht mehr über die „Brücke der Freundschaft“ einmarschieren. „Wenn sie kommen, werde ich kämpfen“, sagt Indrek Jurtschenko, freiwilliger Soldat der Estnischen Bürgerwehr im Beitrag der „ARD“.