Militärexperten warnen vor Narwa-Szenario: „Putin überrascht uns“

Würden wir sterben für Narwa? Würde die Nato eine Eskalation, ja gar einen Atomkrieg mit Russland riskieren für eine 50.000 Einwohner-Stadt?

Das sogenannte "Narwa-Szenario" ist eines, mit dem sich der Militärexperte Carlo Masala in seinem neuesten Buch beschäftigt. Und nun, in einem aktuellen Interview mit „N-tv“, warnt er zusammen mit seinem Kollegen, dem Militärhistoriker Sönke Neitzel, nochmals eindringlich vor dieser Gefahr. In dem Interview betonen die beiden Wissenschaftler nämlich, dass Russland nach einem möglichen Sieg in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine versuchen könnte, das westliche Bündnis herauszufordern. ​

Greift Putins Russland in Estland an? Das Narwa-Szenario

Im Kern beschäftigt sich das Gedankenspiel mit der Gefahr an einem der östlichsten Zipfel der Nato: Nämlich der Stadt Narwa in Estland, die direkt an der Grenze zu Russland liegt. Russische Truppen besetzen in diesem Gedankenspiel Narwa. Ziel von Moskau ist es, die Nato zu einer Reaktion gemäß Artikel 5 des Nordatlantikvertrags zu provozieren. Dieser sieht vor, dass für die Nato ein Angriff auf eines ihrer Mitgliedsländer einem Angriff auf alle Bündnispartner gleichkommt. 

Die Mitglieder sind verpflichtet, dem angegriffenen Land Beistand zu leisten, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt. In dem Szenario von Masala, welches er für das Jahr 2028 durchspielt, stehen die NATO-Staaten nun vor einem Dilemma. Reagieren sie und riskieren damit eine Eskalation bis hin zu einem Atomkrieg? Oder tun sie nichts und machen damit ihre Glaubwürdigkeit zunichte, begraben das Sicherheitsversprechen der Nato und machen Putin weiter Mut?

Der Westen, so sagt es Sönke Neitzel, glaube, dass man viel Zeit zum Aufrüsten habe. „Ich bin wie Carlo überzeugt: Wladimir Putin denkt in Opportunitäten und wird uns vorher testen. Deshalb sollten wir so handeln, als könnte dies unser letzter Sommer in Frieden sein.“

Diese Formulierung, „letzter Sommer in Frieden“, hatte Neitzel vor einigen Wochen bereits in einem Interview verwendet und war dafür hart kritisiert worden. Denn andere Experten sehen darin eine unnötige Panikmache.

"Wir werden von Putin überrascht"

Doch Neitzels Kollege Masala springt ihm in dem Interview bei: Seit einem Dreivierteljahr sage „so gut wie jeder Geheimdienst in Europa“ dasselbe. Nämlich, so Masala: „Russland stellt seine militärische Stärke wieder her und will bald stärker sein als 2022.“ Er und Neitzel machten sich „Gedanken, wie dieses Test-Szenario aussehen könnte. Politisch kann man natürlich sagen, das wird nicht passieren. Aber dann laufen wir in dieselbe Falle, in die wir 2021 gelaufen sind: Wir werden erneut überrascht, wenn Putin mit seinen Truppen die Grenze überquert“.

Das Narwa-Szenario thematisierte auch schon Bestseller-Autor Tom Clancy in einem Roman und in einem Aufsatz der "Bundeszentrale für politische Bildung" aus 2024 wird eben die provokante Frage gestellt: „Sterben für Narwa?"

Narwa an der Grenze zu Russland ist mit rund 56.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Estlands
Narwa an der Grenze zu Russland ist mit rund 56.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Estlands Juri Rescheto/DW

Dass das Narwa-Szenario keineswegs aus der Luft gegriffen ist, zeigt unter anderem, dass Putin kurz nach dem Angriff auf die Ukraine behauptet hatte, die Stadt gehöre historisch zu Russland. Darüber schreibt die „Welt“ und zitiert in dem Zusammenhang in einem aktuellen Artikel einen estnischen Sicherheitsbeamten. Der glaube nicht, dass die Nato-Verbündeten Estlands auf das, was in Narwa passieren könnte, vorbereitet seien. 

"Die Menschen begreifen die aktuelle Situation einfach nicht“

Zwar seien Nato-Truppen in Estland stationiert, das kleine Land bereite sich zudem intensiv auf einen möglichen Angriff vor. Aber der Beamte sagt über die Verbündeten seines Landes: „Ich glaube, das Problembewusstsein ist mit dem, das wir haben, nicht vergleichbar. Das gab es 2008 nicht (als Russland in Georgien einmarschierte, d. Red.) ebenso wenig wie 2014 (bei der Annexion der Krim-Halbinsel), und das gibt es auch heute nicht. Die Menschen begreifen die aktuelle Situation einfach nicht.“

Die „Welt“ berichtete zudem über Aussagen der Stadtbewohner von Narwa, wonach es ständige Provokationen und Sabotage vonseiten Moskau gebe: von Störungen bei der Satellitennavigation bis zu gestohlenen Grenzmarkierungsbojen, laut schallender Propaganda, Überwachungsdrohnen und brummenden Zeppelinen, die mit dem „Z“ der russischen Armee markiert seien.

"Angriff Russlands ist im Bereich des Denkbaren"

Masala meint deshalb: „Speziell das Narwa-Szenario ist auch als Anregung für ein breiteres Publikum gedacht, nicht nur für Kommandostäbe. Denn dieser Diskurs ist in Deutschland nicht sehr präsent. Viele Leute halten einen russischen Angriff für übertrieben, für Quatsch oder Kriegstreiberei. Ganz nüchtern betrachtet ist er aber im Bereich des Denkbaren.“

Aus diesem Grund sind Masala und Neitzel auch skeptisch bei der Verwendung der Formulierung „Umgehen“ in Bezug auf Putin und Russland. Es sei eine „leidige Diskussion“, sagt Masala. Man müsse natürlich die russischen Interessen berücksichtigen. Und nach dem Zweiten Weltkrieg hätten die westlichen Staaten „einen Weg gefunden, mit den Revisionsmächten Deutschland, Italien und Japan ‚umzugehen‘". Er sei auch nicht gegen Diplomatie. "Aber damit werden wir bei Putin nichts erreichen. Der wird weiter auf die militärische Karte setzen. Dafür müssen wir uns wappnen, denn bestimmte Dinge sind nicht verhandelbar: Wir können die Ukraine nicht aufgeben, denn dann verraten wir alle westlichen Prinzipien und werden Teil einer russischen Machtordnung.“