Gewerkschaften und Krankenkassen warnen vor Risiken für Beschäftigte und Wirtschaft
Die Debatte um die Lohnfortzahlung für Arbeitnehmer ab dem ersten Krankheitstag ist neu entbrannt. Allianz-Vorstandschef Oliver Bäte ließ jüngst über nationale Medien verlauten, dass die hohe Zahl der Krankheitstage unter deutschen Beschäftigten zu Lasten der Wirtschaft und des Sozialsystems gehe.
Bäte plädierte für die Wiedereinführung eines Karenztages – also eines Tages, an dem Arbeitnehmer bei Krankheit zwar freigestellt sind, aber keinen Anspruch auf Lohnfortzahlung haben.
Karenztag Debatte
Doch stellt sich die Frage: Sind die Fehlzeiten von Arbeitnehmern tatsächlich so gravierend, dass sie die Wirtschaft belasten? Karl Musiol, 1. Bevollmächtigter der IG Metall in Weilheim, widerspricht dem entschieden. Er spricht von einer statistischen Verzerrung: „Tatsächlich ist der Krankenstand laut OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) exakt auf dem Stand der Jahre 2015 bis 2019“, erklärt Musiol. „Während der Pandemie ging der Krankenstand zurück, vermutlich wegen Kurzarbeit und Homeoffice. Jetzt normalisiert er sich wieder auf das Niveau der Zeit vor Corona.“
Für die Region liegen der DAK-Gesundheit bislang nur die Halbjahreszahlen 2024 vor. Eine Sonderanalyse der Krankenkasse zeigt jedoch, dass der Krankenstand im ersten Halbjahr 2024 auf fünf Prozent von zuvor 4,8 Prozent gestiegen ist. Laut der Analyse war jeder Arbeitnehmer in der Region im Durchschnitt 9,2 Tage krankgeschrieben. Pro 100 DAK-Versicherte gab es etwa 917 Ausfalltage – ein Anstieg um 6,4 Prozent im Vergleich zum ersten Halbjahr 2023.
Die AOK vermeldet ähnliche Zahlen. Dabei ist von Januar bis November 2024 ein leichter Anstieg der Arbeitsunfähigkeitsfälle (AU-Fälle) und ein leichter Rückgang der durchschnittlichen Dauer der Arbeitsunfähigkeit im Vergleich zum Vorjahreszeitraum festzustellen. Trotzdem sieht die AOK ein Problem mit der Wiedereinführung von Karenztagen. Denn: Dies würde bedeuten, dass Beschäftigte im Krankheitsfall in dieser Zeit keine Lohnfortzahlung erhalten würden. „Krankheiten, egal, ob es um einen Atemwegsinfekt, eine Krebserkrankung oder um eine Depression geht, können jede beschäftigte Person treffen“, gibt Helmut Schröder, Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK, zu bedenken. „Angesichts des aktuellen Fachkräftemangels und der älter werdenden Belegschaften sollten alle Chancen genutzt werden, damit die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten langfristig erhalten bleibt.“ Besonders bei vulnerablen Gruppen würde das Risiko bestehen, dass notwendige krankheitsbedingte Ausfalltage nicht in Anspruch genommen werden würden. Leidtragende wären dann an erster Stelle die Beschäftigten, die durch einen solchen Raubbau an ihrem Körper die kurz- und langfristigen Folgen zu tragen hätten und auch eine chronische Erkrankung in Kauf nehmen würden, so Schröder.

Krankenstand ist hoch
„Der weiterhin hohe Krankenstand in der Region ist alarmierend und sollte ein Weckruf für die Arbeitgeber sein“, sagt Sandra Siegl von der DAK-Gesundheit. „Wer die Gesundheit seiner Beschäftigten schützt, stärkt auch die Leistungsfähigkeit und den wirtschaftlichen Erfolg seines Unternehmens.“
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Auch die Apotheker berichten von erhöhten Erkrankungen der Atemwege – darunter Erkältungen mit klassischen Symptomen wie Schnupfen, Husten und Halsschmerzen. „Aktuell sehen wir viele Infektionen mit Rhinoviren, die eher milde verlaufen und typische Erkältungssymptome auslösen“, berichtet Dr. Philipp Kircher, Sprecher der Apotheken im Landkreis Weilheim-Schongau und Inhaber der St.-Ulrich-Apotheke in Peißenberg.
Allianz-Chef Bäte sieht in den Krankheitstagen der deutschen Arbeitnehmer jedoch ein wirtschaftliches Problem. Er betonte, dass ein durchschnittlicher Krankenstand von 20 Tagen pro Jahr und Arbeitnehmer nicht tragbar sei. Deshalb fordert er die Wiedereinführung eines Karenztages, wie es ihn in Deutschland bereits vor 1970 gab. In anderen europäischen Ländern wie Spanien, Griechenland und Schweden existiert der Karenztag bis heute.
Elektronische Krankschreibung
Einige Experten vermuten öffentlich, dass die jüngst gemeldeten hohen Krankenstände auch mit der Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zusammenhängen. Bis Anfang 2022 mussten Beschäftigte ihre Krankenscheine selbst an die Krankenkassen schicken – viele taten dies jedoch nicht.
„Jetzt läuft das System lückenlos und automatisch“, erklärt IG-Metall-Vertreter Musiol. „Dass die Krankenkassen jetzt höhere Zahlen melden, ist also keine reale Steigerung, sondern eine statistische Verzerrung.“
Von einem Karenztag hält Musiol gar nichts: „Eine gesunde deutsche Wirtschaft braucht gesunde Beschäftigte. Das erreicht man nur durch gute Arbeitsbedingungen“, resümiert er. „Was nicht hilft, ist eine Diskussion darüber, dass Menschen krank zur Arbeit gehen.“
Schröder von der AOK sieht auch keinen Grund, den Arbeitnehmern zu misstrauen. „Karenztage könnten übrigens auch dazu führen, dass sich Angestellte bereits am ersten Tag einer Krankheit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellen lassen, so Schröder, der warnt: „Das wiederum würde die Arztpraxen noch voller machen, als sie es bereits heute sind.“
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