„Empfänger unbekannt“: TiK-Premiere von brennender Aktualität

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Dramatisches Ende einer Freundschaft: Lesung mit Hans Piesbergen (links) und Christian Kaiser am 79. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers in Auschwitz. © Lajos Fischer

Kempten – „Es ist faszinierend, was für eine Macht Worte haben“, sagte eine Zuschauerin beim Publikumsgespräch nach der Premiere der Lesung „Empfänger unbekannt“ in der Theaterwerkstatt. Der ­fiktive Briefwechsel zwischen zwei Männern, die ­Kathrine Kressmann Taylor, eine bis dahin unbekannte Werbetexterin und dreifache Mutter, im September 1938 in einer New ­Yorker Zeitschrift publizierte, wirkt sehr lebendig in die Gegenwart hinein und ist heute noch immer „hochaktuell“, wie ein Mann aus dem Publikum betonte.

Das Vorhaben dieser Lesung zusammen mit Christian Kaiser sei bereits vor etwa drei Jahren entstanden, erzählt Hans Piesbergen. Theater-Direktorin Silvia Armbruster bot den beiden Schauspielern dieses Jahr an, ihre Pläne am Holocaust-Gedenktag umzusetzen. Auch die thematische Zusammenspiel mit Sebalds Werk „Die Ausgewanderten“, das gerade ebenfalls auf dem Spielplan steht, ist nicht zu übersehen. Das rege Interesse am Gespräch nach der Premiere, bei dem die Vergleiche mit der aktuellen politischen Situation schnell in den Vordergrund gerieten, zeigt die Brisanz, die mit der Geschichte verbunden ist.

Max Eisenstein (Piesbergen) und Martin Schulze (im Original Schulse, Kaiser) sitzen mit gebührendem Abstand an einem weiß gedeckten Tisch. Sie lesen 18 Briefe und ein Telegramm vor, die sie einander zwischen November 1932 und März 1934 zwischen San Francisco und München zugeschickt haben. Die Dramatik, die hinter den Worten steckt, ist kaum zu übertreffen. „Ich habe nie auf weniger Seiten ein größeres Drama gelesen“, schreibt Elke Heidenreich in ihrem Nachwort.

Max führt in Amerika die gemeinsame Galerie weiter, nachdem Martin nach Deutschland zurückgekehrt ist. Der in San Francisco Gebliebene berichtet mit einer Prise jüdischer Selbst­ironie über geschäftliche Erfolge, der gerade in München Angekommene über das Einrichten seines neu bezogenen Schlosses und über das Wachsen seiner Familie. Das Teilen humorvoller Episoden aus ihrem Alltag und die Erinnerung an ein gemeinsames Geheimnis lassen die Zuschauer die vertraute Beziehung zwischen den Freunden nachempfinden. Von einer politischen Bedrohung ist zunächst nichts zu spüren, Max blickt fast euphorisch auf den zurückgelegten „weiten Weg“ der vergangenen 14 Jahre nach der „bitteren Erfahrung“ des Krieges zurück.

Meisterhafte Schauspielkunst

Erst am 21. Januar 1933 fragt Max eher nebenbei seinen Freund nach Hitler. In den folgenden Briefen Martins kann man genau nachverfolgen, wie das Gift des Nationalsozialismus in kurzer Zeit von ihm Besitz ergreift. Die Zuschauer bekommen hautnah und vielschichtig mit, wie das Politische ins Private eindringt und menschliche Beziehungen und Schicksale gnadenlos zerstört. Der Saal der Theaterwerkstatt ist so klein, dass man die kleinsten Regungen in der Mimik der Darsteller wahrnehmen kann, und zwar gleichzeitig bei beiden. Die anfängliche Harmonie der drei Elemente beim Absender: Text, Stimme und Körpersprache zerfällt zusehends. Dem Darsteller des Empfängers steht nur die Körpersprache zur Verfügung, die alleinig auf den Text reagieren kann. Die meisterhaften schauspielerischen Leistungen von Kaiser und Piesbergen sorgen dafür, dass der Zuschauer ein unverhülltes Gesamtbild erhält. Die Wirkung blieb nicht aus: Nach der Vorstellung berichteten mehrere Frauen und Männer, wie stark sie die Aufführung berührte.

Und die Palette der dargestellten emotionalen Welten ist sehr groß. Am Anfang ist es Max, bei dem man die Gefühlsregungen, seine Neugier und Freude auf und über die Briefe, später seine Nachdenklichkeit und Bestürzung direkt miterlebt. In der zweiten Hälfte werden seine Rachegefühle durch einen sachlichen und entschlossenen Ton sowie verhärtete Mimik verdeckt. Beim anfänglich eher zurückhaltend wirkenden Martin kommt durch den Nationalsozialismus dann Begeisterung auf, aber richtig emotional wird er erst nach dem Erhalt des unerwarteten Telegramms: Er kann seine Angst und Verzweiflung nicht mehr verstecken.

Im Mittelpunkt der dramatischen Ereignisse steht eine dritte Person: Max’ Schwester, Gisela (ursprünglich Griselle), eine Schauspielerin, mit der Martin in den USA eine heimliche Affäre hatte und die während des Briefwechsels in Wien, dann in Berlin arbeitet. Als Max das erste Mal über ihren neuen Aufenthaltsort berichtet, beschreibt Martin sie als eine „weiche, tapfere Seele“, die er in seinem gastfreundlichen, offenen Haus“ mit einem „fröhlichen Fest“ empfangen werde. Als sie schließlich versucht, beim ihm eine letzte Zuflucht zu finden und er sie, sie von der Tür weisend, in die Hände der Schlägertruppen und somit in den Tod schickt, bezeichnet er sie als „törichte Person“, die „ihren jüdischen Körper vor reinen, jungen deutschen Männern zur Schau stellte“. So handelt ein Mensch, der vorher damit geprahlt hat, im Gegensatz zu den liberalen jüdischen „Schwätzern“ ein Mann tapferer Taten zu sein.

Es lohnt sich, auf die vielen kleinen Beweise der Veränderung auf der Bühne zu achten: auf die Anreden in den Briefen, auf die Farbe der Couverts, auf die Bewegungen beim Zukleben der Umschläge, auf die Verschiebung des Vokabulars.

Gewalt im Mittelpunkt

Dramaturgisch beeindruckend ist, wie das Thema Gewalt von einer „Randerscheinung“ in den Mittelpunkt gerückt wird. Als Max seinen Freund konkret mit den Details von Pogromen konfrontiert, meint er, dass die Brutalität der Braunhemden eine vorübergehende „Nebensächlichkeit“ sei. Als Gisela vor seiner Tür steht, erlebt er die mörderische Gewalt hautnah. Und am Ende fällt er ihr selbst zum Opfer. Es sei falsch zu glauben, dass die Gewalt diejenigen nicht trifft, die deren Geist aus der Flasche gelassen haben, meinte ein Zuschauer.

Von der „Hellsichtigkeit“ der Autorin, die „Adress Unknown“ kurz vor der Reichspogromnacht und Jahre vor Auschwitz geschrieben hatte, waren alle Anwesenden fasziniert. Viele in ihrem Buch angesprochenen Themen prägen bis heute sowohl die historische Forschung als auch den öffentlichen Diskurs. „Geh nicht so fügsam in die dunkle Nacht“, zitiert Elke Heidenreich ein Gedicht von Dylan Thomas. „Ihr seid niemals tapfer genug, zurückzuschlagen“, wirft Martin Max vor, kurz bevor er endgültig die Freundschaft aufkündigt.

Was heute wenigen bewusst ist: Die vorherrschende öffentliche Meinung war in Israel nach der Staatsgründung auch nicht viel anders. Tom Segev („Die siebte Million“) zeigt auf, dass der neue Staat den Mythos von tapferen Helden wie den der Widerstandskämpfer im Warschauer Ghetto brauchte. Ihnen gegenüber stand die Mehrheit der europäischen Juden, denen vorgeworfen wurde, freiwillig in die Viehwaggons gestiegen zu sein. Die KZ-Überlebenden hatten in diesen Jahren einen schweren Stand. Zu einer wesentlichen Änderung kam es erst in den 80er Jahren. Zum großen Erfolg von Quentin Tarantinos „Inglourious Basterds“ (2009) trug mit Sicherheit die Sehnsucht nach diesem siegreichen Helden bei. Was in dem Film mit viel Blut erreicht wird, schafft Kressmann Taylors Max mit anderen Mitteln: mit „Fake News“, wie ein Zuschauer erkannte. Was die beiden amerikanischen Autoren verbindet, ist der Schluss ihrer Werke: Durch die Symbole eines auf die Stirn geritzten Hakenkreuzes bzw. eines Briefumschlags mit dem Stempel „Empfänger unbekannt“ wird das Gelingen der Rache deutlich. Tarantinos Film endet mit dem doppeldeutigen Satz: „Ich glaube, das ist mein Meisterstück.“ Das gilt für Max und Kressmann Taylor ebenso.

Stimmen aus dem Publikum

Es lohnt sich schließlich, einige weitere Fragestellungen, Anregungen und Meinungen aus dem ausgesprochen substanziellen Publikumsgespräch zu erwähnen:

  • Wie kann es in der Schule gelingen, junge Menschen für das Thema zu sensibilisieren? Inwieweit ist es sinnvoll, im Geschichtsunterricht einen Gegenwartsbezug herzustellen?
  • Es wäre falsch, Menschen in die Kategorien Opfer und Täter einzuteilen. Die Welt ist in Wirklichkeit viel komplexer.
  • Auch heute berufen sich autoritäre Regime darauf, dass eine Innensicht authentischer wäre. Just deshalb ist es immer wichtig, die Außensicht wahrzunehmen.
  • Wir merken nicht so schnell, wenn unsere politischen Referenzrahmen sich allmählich verschieben (Die Wissenschaft nennt das Shifting Baselines). Heute betrachtet man öffentliche Äußerungen als „normal“, die vor ein paar Jahren noch absolute Tabus waren. Jetzt merkt man, wieviel Hass da ist. Wenn Menschen gemeinsam auf die Straße gehen, können sie dem Änderungsprozess entgegenwirken.
  • Noch wichtiger ist, am entscheidenden Tag zur Wahl zu gehen. Man fragt sich: Was wählen die, die nicht auf die Straße gehen? Es gibt eine große Ungewissheit, wohin die jetzige Entwicklung hinsteuert. Wo ist der Kipp-Punkt, an dem „es gelaufen ist“.
  • Hier fühlt man sich wie ein Pfarrer in seiner Gemeinde. Sollte man mit diesem Stück in eine AfD-Versammlung gehen? Uns geht die Fähigkeit verloren, das Gespräch zwischen sich polarisierenden Positionen herzustellen.
  • Die „Schlägertruppen“ gibt es heute in den sozialen Medien. Politiker werden beispielsweise bedroht: Ich weiß, wo dein Zuhause ist.
  • Die sozialen Umstände in den 30er Jahren waren anders: Sehr viele Leute hatten richtig Hunger. Jetzt kommen wir aus dem Zustand von siebzig Jahren Verwöhntheit. Man denkt: Ich komme zu kurz, jemand nimmt mir etwas weg. Aber was wollen wir noch mehr?
  • Auch heute zerbrechen Freundschaften oder Familien wegen geänderten politischen Einstellungen. Denken wir an die Türkei nach dem Putschversuch, aber auch an Deutschland, verstärkt seit Corona.
  • Schafft es die AfD, eine „verdruckste, planlose, rassistische Partei“, ihren Anhängern ein gemeinsames Gefühl zu geben, was die anderen Parteien nicht mehr können?
  • Was kann der Einzelne für den Erhalt der Demokratie tun?

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