Verhandlungsexperte erklärt, wie Merz im Rentenstreit dem Abgrund entgehen kann

Die schwarz-rote Koalition ringt um das umstrittene Rentenpaket – unter Zeitdruck, mit knapper Mehrheit und wachsendem Unmut in den eigenen Reihen. Das Gesetzespaket ist im Kabinett beschlossen, eine belastbare Mehrheit im Bundestag zeichnet sich jedoch nicht ab. 

Merz und der Rentenstreit: Fehler der Koalitionsspitzen

Entscheidend ist der Widerstand in Teilen der Unionsfraktion: Die Junge Gruppe, also alle Abgeordneten, die zu Beginn der Wahlperiode höchstens 35 Jahre alt waren, umfasst 18 Stimmen und hat angekündigt, dem Paket in der vorliegenden Form nicht zuzustimmen. Der Widerstand in der Union beschränkt sich jedoch nicht auf die Junge Gruppe. Aus der Fraktion ist von bis zu 30 oder sogar 40 möglichen Neinstimmen die Rede. Damit käme die rechnerische Mehrheit von Union und SPD massiv unter Druck. Da die Koalitionäre zusammen nur einen Puffer von einem Dutzend Stimmen haben, könnte schon der Block der Jungen Gruppe das Vorhaben scheitern lassen.

Thorsten Hofmann, ehemaliger operativer Ermittler des BKAs und Interpol, leitet das C4 Center for Negotiation an der Quadriga Hochschule Berlin. Er ist Experte für Verhandlungen. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.

Die Fehler der Koalitionsspitzen in den letzten Tagen führen allerdings zu einer zusätzlichen Verschärfung des Konfliktes.

Klingbeil als Katalysator

Ein Katalysator der Eskalation war die Aussage des SPD-Vorsitzenden und Vizekanzlers Lars Klingbeil. Er schloss auf dem Landesparteitag der SPD Baden-Württemberg in Ulm weitere Änderungen am Rentenpaket öffentlich aus. Adressat der Botschaft war erkennbar die Unionsfraktion, in der zuletzt Vorbehalte gewachsen waren. In der Union werteten das vor allem jüngere Abgeordnete als Signal, dass der parlamentarische Spielraum bewusst enggeführt werde. Klingbeils Ansage und öffentliche Ermahnungen an die Junge Union wirken identitätsstiftend – allerdings für die Rebellion.

Diese Festlegung wird von Kritikerinnen und Kritikern in der Union als Provokation verstanden. Das Lager der Skeptiker fühlte sich eher bestätigt als besänftigt und formulierte die ablehnende Haltung noch klarer. Klingbeil schweißt damit die Union zusammen. Die Junge Gruppe erhält einen gemeinsamen Gegner und damit Identität. Je härter das SPD-Signal, desto leichter rechtfertigen Unionsabgeordnete ein Nein. Ihr Widerstand wird zur Prinzipienfrage statt zu einem Detailstreit. Wer öffentlich abkanzelt, erschwert stilles Nachjustieren im Ausschuss. Künftige Projekte starten mit Vorschuss-Skepsis.

Der Zeitplan des Kanzlers

Der Bundeskanzler verfolgt gleichzeitig einen ambitionierten Zeitplan. Friedrich Merz hat mehrfach erklärt, die Diskussion müsse bis Jahresende abgeschlossen werden, damit Elemente wie die Aktivrente planmäßig zum 1. Januar 2026 starten können. Mit diesem Kalender verknüpft er das politische Ziel, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren.

Ein laut gesetztes Datum bietet eine klare Messlatte. Scheitert oder rutscht der Termin, kippt die Erzählung von Handlungsfähigkeit zu Kontrollverlust. Eine harte Zeitansage lädt zusätzlich zu sichtbarer Gegenmacht ein. In Teilen der Union kann ein Anreiz entstehen, Stärke zu demonstrieren, indem man die Fraktionsdisziplin testet oder symbolische Niederlagen für das Kanzleramt provoziert. Wird die Marke Jahresende gerissen, leidet die Glaubwürdigkeit des Kanzlers in zwei Dimensionen: Führungsstärke innerhalb der Union und Verlässlichkeit gegenüber dem Koalitionspartner.

Die Sensibilität von Spahn

Die Rolle von Jens Spahn ist in dieser Konstellation zentral. Der Unionsfraktionsvorsitzende verantwortet die Mehrheitenorganisation im Parlament und steuert die Taktung der Beratungen. Er muss den Puls der Fraktion spüren und die Stimmung steuern. Er ist der Seismograph des Kanzlers für die eigene Machtbasis und muss sicherstellen, dass die Abgeordneten hinter Gesetzesvorhaben der Koalition stehen. 

Wenn Mehrheiten wiederholt nicht stehen, entsteht der Eindruck, der Kanzler habe die eigene Fraktion nicht im Griff. Das schwächt ihn gegenüber Koalitionspartnern und Öffentlichkeit – und macht künftige Zusagen weniger glaubwürdig. Dies ist nicht die erste Situation, in der der Fraktionschef seine eigene Fraktion falsch einschätzt: Wenige Stunden vor der geplanten Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin musste Spahn einräumen, dass er die Stimmen der Union nicht garantieren könne. 

Nun folgt der nächste Fall. Das macht es für zukünftige Verhandlungen mit dem Koalitionspartner nicht leichter. Die Sozialdemokraten können nicht mehr davon ausgehen, dass was im Kabinett steht auch durchkommt. Jeder Text wird erst mit dem Fraktionscheck glaubwürdig. Werden Zusagen des Kanzlers gegenüber dem Regierungspartner in den eigenen Reihen immer wieder in Zweifel gezogen, schwächt das die Durchsetzungskraft am Verhandlungstisch.

Die 2 wichtigsten Elemente für den Erfolg: Prozess und Ton

Die nächsten Tage werden maßgeblich davon bestimmt, ob beide Koalitionspartner kommunikative und prozedurale Ventile öffnen. Dazu zählt auch auf SPD-Seite die Anerkennung, dass begleitende Parlamentsbeschlüsse zum Standardwerkzeug gehören, wenn ein Kabinettstext auf eine knappe und heterogene Mehrheit trifft. Dies wird in dieser Legislatur so bleiben. Auf Unionsseite wird es darauf ankommen, Skeptiker einzubinden, ohne die eigene Regierungskoalition zu beschädigen und Vertrauen zu verlieren.

Die öffentliche Tonlage wird mit darüber entscheiden, ob ein Kompromissfenster offenbleibt oder Vertrauen zwischen den Koalitionären zerstört wird. Entscheidend ist, ob das übliche Zusammenspiel von Kabinett, Ausschüssen und Plenum unter den Bedingungen einer knappen Mehrheit so organisiert wird, dass ein überprüfbarer Kompromiss möglich bleibt. Am Ende wird die Koalition weniger an ihrer Grundsatzabsicht gemessen, sondern an ihrer Prozesskompetenz, die zu Ergebnissen führt.

Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.