Notruf ohne Notfall: Immer mehr wählen 112 - im Ernstfall fehlen Rettungskräfte

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Ein bayernweites Problem: Rettungswagen werden gerufen, obwohl kein lebensbedrohlicher Notfall vorliegt. © Monika Skolimowska/dpa

Die Lebensretter haben ein Problem: Immer mehr Leute wählen den Notruf ohne einen Notfall. Wozu das führt, erklärt der hiesige stellvertretende Leiter des BRK-Rettungsdienstes im Interview.

Bad Tölz-Wolfratshausen – Man wählt die 112, und niemand kommt. Ein Albtraum für viele. Für Sebastian Limmer auch. Er ist stellvertretender Leiter des Rettungsdienstes beim Bayerischen Roten Kreuz (BRK) im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen. Die Lebensretter haben ein Problem: Immer mehr Menschen wählen den Notruf ohne einen Notfall. Zu welchen Problemen das führt – für Retter und Patienten – erklärt Limmer im Gespräch mit unserer Mitarbeiterin Marie Kronawitter.

Immer mehr Menschen wählen ohne Notfall den Notruf - Problem für Lebensretter

Herr Limmer, im vergangenen Jahr wählten 3,5 Millionen Menschen den Notruf in Bayern. Das sind 500 000 mehr als im Jahr davor. Gibt es so viel mehr Notfälle?

Das Problem ist, dass die Leute nicht mehr wissen, wann der Notruf die richtige Nummer ist. Viele sind schon bei Grippe oder einem Magen-Darm-Infekt überfordert und rufen dann den Rettungsdienst.

Das klingt wie ein Großstadt-Problem.

Es ist hier im Landkreis vielleicht nicht so schlimm wie in Großstädten, etwa in München, aber es ist trotzdem da. Es geht um ein bayernweit flächendeckendes Problem, und das macht auch vor uns nicht Halt.

Sebastian Limmer
, Stellvertretender Leiter des
 BRK-Rettungsdienstes
 im Landkreises.
Sebastian Limmer, Stellvertretender Leiter des BRK-Rettungsdienstes im Landkreises. © Privat

Was heißt das für Leitstellen und Einsatzkräfte?

Das System unseres Rettungsdienstes ist auf Notfälle ausgerichtet. Das heißt, wir haben eine bestimmte Anzahl an Fahrzeugen und eine bestimmte Kapazität. Besonders im ländlichen Bereich führt es dann zu Problemen, wenn ein Rettungswagen gerufen wird, obwohl kein lebensbedrohlicher Notfall vorliegt. Dann wird’s personell bei uns einfach eng.

Es liegt also am System unseres Rettungsdienstes?

Nein, auch die Bevölkerung ist daran schuld. Viele wissen nicht mehr, was man macht, wenn man eine Grippe hat. Die Menschen lernen es nicht mehr von ihren Eltern oder Großeltern und wählen dann die 112. Ganz nach dem Motto: Lieber mal anrufen, statt sich auszukurieren. Viele wissen also gar nicht mehr, wann man den Notruf wählen sollte und wann nicht.

Viele wissen nicht mehr, was man macht, wenn man eine Grippe hat. Die Menschen lernen es nicht mehr von ihren Eltern oder Großeltern und wählen dann die 112.

Wann wähle ich denn die 112? Gibt es da eine Faustregel?

Eine Faustregel ist immer schwierig. Aber vor allem am Wochenende oder in der Nacht kann man sich die Frage stellen: Würde ich unter der Woche damit zum Arzt gehen? Wenn ja, ist nicht der Notruf, sondern der ärztliche Bereitschaftsdienst zuständig. Den erreicht man übrigens unter der 116 117.

Immer mehr wählen die 112 - Stellvertretender BRK-Leiter im Interview

Wie gehen Sie mit Bagatelle-Anrufen um?

Wir machen erstmal keinen Unterschied bei den Patienten und behandeln alle gleich, ob gefährlicher Notfall oder nicht. Solche Bagatelle-Einsätze führen dazu, dass ein Rettungswagen und das Personal für eine halbe Stunde bis eine Stunde nicht einsatzfähig für tatsächliche Notfälle sind. Das heißt, die Rettungswagen fehlen für den Verkehrsunfall, weil jemand wegen eines Magen-Darm-Infekts den Notruf wählt.

Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?

Prinzipiell muss man sagen, unser Gesundheitssystem gehört zu den komplizierteren. In anderen Ländern gibt es sogenannte Gesundheitslotsen. Die kann man fragen, wenn man nicht weiß, was die richtige Anlaufstelle ist. So etwas fehlt bei uns. Der Notruf und der ärztliche Bereitschaftsdienst sind getrennte Anlaufstellen und haben nicht eine einheitliche Nummer, bei der ich anrufe und dann zur richtigen Stelle weitergeleitet werde.

Bagatelle-Einsätze führen dazu, dass ein Rettungswagen und das Personal für eine halbe Stunde bis Stunde nicht einsatzfähig für tatsächliche Notrufe sind.

Was kann man als Bürger tun?

Was helfen kann, ist, öfter als nur für den Führerschein einen Erste-Hilfe-Kurs zu machen. Dort lernt man genau, was ein Notfall ist und wann man die 112 wählen sollte. Und man lernt in den anderen Situationen, die nicht lebensgefährlich sind, selbst zu handeln.

Viele Mobiltelefone und Autos setzen automatisch einen Notruf ab, wenn zum Beispiel die Airbags im Fahrzeug ausgelöst werden. Ist das ebenfalls ein Grund für die vielen Anrufe?

Wir haben durchaus Fälle von sogenannten E-Calls. Die sind aber nicht der Grund für mehr Bagatelle-Fahrten. Im Gegenteil: Meistens verständigen die den Rettungsdienst nur dann, wenn wirklich ein Notfall vorliegt, wenn ein Betroffener beispielsweise den Notruf nicht selbst abgeben kann.

Wie entscheidet ein Mitarbeiter am Telefon, ob wirklich ein Notfall vorliegt?

Das ist schwierig. In der Regel mit gezielten Fragen. Im Moment arbeitet der Gesetzgeber an einem präziseren Fragenkatalog als bisher. Ein Problem bleibt: Am Telefon sieht man den Patienten nicht, man kann sich also nie sicher sein, ob die Einschätzung am Telefon die richtige ist.

Also kann irgendein Mensch am Telefon entscheiden, dass kein Sanka kommt, wenn ich verletzt bin?

Nein, das nicht. Das kann im Nachhinein strafrechtliche Konsequenzen haben für Mitarbeiter, die niemanden losschicken. Deswegen alarmieren die meisten lieber einen Rettungswagen mehr als einen zu wenig.

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