Kannste dir nicht ausdenken: Sitzen zwei alte Männer in der Einöde und schreiben Geschichte

Das Alptraumszenario der Europäer ist schon längst keins mehr. Der Traum ist kein Alp mehr, es ist schlimmer, denn: Er hat schon angefangen.

Die alte Ordnung ist dahin - und mit ihr das Völkerrecht, auf das sie sich im Auswärtigen Amt mit deutscher Prinzipientreue seit Jahren berufen, ganz gleich, wer unter der selbstbewussten Bürokraten-Elite dort gerade als Minister dient.

Friedrich Merz kann per Hubschrauber einfliegen lassen, wen er will, es imposant aussehen lassen wie bei Donald Trump im Regierungsgarten. Es ändert nichts daran: In der Ukraine sind die Europäer den Amerikanern und den Russen ausgeliefert. 

Alaska-Gipfel mit Trump und Putin: Über der Ukraine weht der Hauch von Jalta

Sie sitzen nicht mit am Tisch, und es gibt diese alte, machiavellistische Diplomatenweisheit, die gerade wieder "La Stampa" aus Mailand mit wohligem Grusel zitiert:

Wer nicht am Tisch sitzt, steht auf der Speisekarte.

Über die Ukraine weht der Hauch von Jalta – die Aufteilung ihres Land über ihre Köpfe hinweg, wie es mit Deutschland im Januar 1945 geschah. Schon wird spitzfindig gerungen, was „de jure“ und was nur „de facto“ passieren könnte mit wichtigen Teilen dieses Landes.

Ob es am Ende so wird wie in Südkorea, wie in Deutschland bis 1989 oder wie im Westjordanland. Russen regieren, was Ukrainern gehört.

Die Ukrainer, inklusive ihrem Chef-Ukrainer, sind Spielball dieser beiden Staatenlenker aus einer alten, neuen Welt geworden.

Die Europäer tun wichtig - too little, too late

Die Europäer tun vor allem eins: wichtig. Sie tun wichtig. Aber ihre Deklamationen sind zu Durchhalteparolen geworden. Würde es wirklich stimmen, dass Europas Freiheit in der Ukraine verteidigt wird, würden Europas Staatenlenker wirklich daran glauben, dass die Russen demnächst – wieder – an der Weichsel stünden vor Warschau, hätten sie sich dann wirklich damit begnügt, den überfallenen Ukrainern stets nach dem Motto Hilfe zu gewähren: Zu wenig, zu spät?

Wladimir Putin nimmt die Europäer ebenso wenig ernst wie Donald Trump. Wer wichtig ist, sitzt mit am Tisch. Die Europäer sitzen nicht mit am Tisch, sie können nur hoffen, dass Donald Trump ihre Interessen vertritt. Nur: Warum sollte er?

Norbert Röttgen sagt: „Dass Trump mit der außenpolitischen Tradition gebrochen hat, die europäische Sicherheit als amerikanisches Interesse zu begreifen, ist die neue Realität.“

Das ist ein sehr desillusionierter, großer Satz, der, falls er stimmt, eine echte Bedrohung ist: Wenn Europas Sicherheit nicht mehr im amerikanischen Interesse ist – kann man sich dann noch auf die Nato verlassen?

Donald Trump
US-Präsident Donald Trump. Getty Images

Rohstoff-Deals oder Ukraine-Krieg - das ist hier die Frage

J.D. Vance hat es so klar gesagt, wie es klarer nicht möglich ist. Der Ukraine-Krieg in seiner Kurzversion: Eure Nachbarschaft, euer Krieg, euer Geld. Wenn wir nett sind: Unsere Waffen; die ihr kaufen dürft bei uns. That’s it.

Man wird sehen, ob sie an diesem Freitag in Anchorage mehr über die Ukraine verhandeln oder doch nicht mehr über Rohstoff-Deals zum beiderseitigen Nutzen.

Die Tatsache, dass Putin in der Ukraine einen Krieg führt, der gegen das Völkerrecht verstößt, spielt in Anchorage überhaupt keine Rolle mehr. Donald Trump tritt nicht in Alaska an, um irgendeine hergebrachte „Ordnung“ zu verteidigen, an die sich – by the way – auch Amerikaner nicht immer gehalten haben. Er vertritt seine Interessen und die seiner Wähler. Basta.

Im Grunde, so sagt es der militärstrategische Meisterdenker Oberst Reisner, „sind wir wieder bei Napoleon“ – es gibt keine Ordnung des Rechts, es gibt nur das Recht des Stärkeren.

Ohnehin kann man entlang dieses Vorgangs einmal mehr lernen: Das Völkerrecht ist exakt so viel wert wie die Macht der Staaten, die sich daran halten.

Wieviel das Völkerrecht im Krieg überhaupt wert ist

Man kann das aktuell geradezu sehen: Der Haftbefehl des Internationalen Gerichtshofs gegen Putin wegen dessen Angriffskrieg wird auf amerikanischem Boden nicht vollstreckt werden. Putin bekommt nach seiner Landung in Alaska keine Handschellen angelegt. 120 Staaten haben des Römische Statut ratifiziert – die Amerikaner gehören nicht dazu.

Das Völkerrecht spielte auch bei der Entscheidung der Europäer, der Ukrainer keine weitreichenden Waffen zu liefern, mit denen sie strategische Ziele auf russischem Territorium hätten angreifen können, keine Rolle. Es wäre übrigens ausdrücklich erlaubt gewesen.

Taurus wäre erlaubt gewesen, nach dieser von Annalena Baerbock und Johann Wadephul so oft zitierten Ordnung des Rechts. Olaf Scholz lieferte nicht diese Mittelstreckenrakete, Deutschlands schärfste Waffe, und Friedrich Merz entschied sich, es ihm gleichzutun. Und zu „scholzen“. Kurz: Auch er liefert nicht.

Wäre Europa wirklich gefährdet, hätten die Europäer dann nicht umgestellt auf „Kriegswirtschaft“ – und es damit den Russen nicht einfach gleichgetan, nur eben mit zigfacher Wirtschaftskraft?

Dreieinhalb Jahre dauert der Krieg jetzt – wenn die Europäer wirklich hätten durchsetzen wollen, dass die Grenzen in Europa nicht mehr durch krude Gewalt verändert werden, wie sie in allen Sonntagsreden sagen – weshalb haben sie nicht, sagen wir, nach einem halben Jahr, die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft bekanntgegeben?

Die Russen haben demonstriert: Hast du Atomraketen, kannst du dir alles erlauben. Also: Weshalb gibt es noch keinen europäischen Atomschirm? Er ist nicht einmal geplant. Immer noch nicht.

Russia's Prime Minister Putin rides a horse in southern Siberia's Tuva region
Der russische Präsident Wladimir Putin reitet auf einem Pferd in der südsibirischen Region Tuwa, 3. August 2009. REUTERS

Anchorage ist eine Demütigung für die Europäer – selbst zugefügt

Und eine Nummer kleiner: Wenn wirklich die Gefahr besteht, wie Carlo Masala in seiner Dystopie über eine Niederlage der Ukraine aufgeschrieben hat, dass die Russen als nächstes in Narwa einfallen in Estland, weil da eine große russischsprachige Minderheit wohnt: Weshalb haben die Europäer es nicht einmal fertiggebracht, das in Belgien gebunkerte russische Vermögen zu beschlagnahmen?

Mit jeder einzelnen Maßnahme hätten die Europäer den Amerikanern und den Russen klargemacht: Wir meinen es ernst, wirklich ernst. Und es wurde tatsächlich auch über alles diskutiert, im Kreis der europäischen Minister, im Kreis der europäischen Regierungschefs. Nichts davon saugt sich irgendein Chefstratege aus den Fingern. 

Aber: Nichts davon ist passiert.

Weshalb die Schlussfolgerung ist: Wenn es eine Demütigung ist für die Europäer, dass sie in Anchorage nicht dabeisitzen, dann haben sie sich diese Demütigung selbst zugefügt.

Die Europäer, auch die Deutschen, sind immer unter ihren Möglichkeiten geblieben. Es war eine bewusste Entscheidung. Sie wurde umwölkt von vielen Worten – der „Ordnung des Rechts“ deutscher Prinzipienreiter, stets im Vollbesitz höherer Moral.

Wie bei der „strategischen Souveränität“, mit der auch Emanuel Macron sein praktisches Wenigtun halbgaullistisch feierlich in die Trikolore hüllte. „Was er sagt, spielt keine Rolle.“ Hat Trump über Macron gesagt. Und früher schon: „Er versteht es nicht.“ Wann wurde ein französischer Präsident derart gedemütigt – und auch noch folgenlos?

Die "multipolare Welt" - ein Irrtum 

Was jetzt gerade passiert, ist bizarr – und straft so gut wie alle neulinken Weisheiten über eine angeblich „multipolare Welt“ krass Lügen. Sie erweckt den Anschein einer Gleichheit, die eine sozialistische Projektion sein mag, die aber mit der neuen Realität nichts zu tun hat. Denn an diesem Freitag sitzen zwei alte weiße Männer beisammen, um in der Einöde von Kanada ganz allein Geschichte zu schreiben.

„Männer machen Geschichte“, Hat Heinrich von Treitschke gesagt. Das war 1879. Und nun, knapp 150 Jahre und etliche emanzipatorische Kulturkämpfe später, ist es schon wieder genau so gekommen.

Verantwortlich dafür sind auch die Europäer, in all ihrer wichtigtuerischen Ohnmacht.

Nun beschert allein schon das Setting dem Autoritären über das Demokratische einen Triumph.

Und die ganze Welt schaut staunend zu.