Schuldfrage im Fall Rebecca Reusch: Das kann "Familien zerreißen"

  • Im Video: Reporter vor Ort in Herzberg: "Bezug des Geländes zur Tat ist das große Rätsel"

Die 15-jährige Rebecca Reusch gilt seit dem 18. Februar 2019 als vermisst. Wegen "neuer Erkenntnisse" kam es in den vergangenen beiden Tagen zu Durchsuchungen in Brandenburg. Offenbar handelt es sich um Orte, an denen sich Rebeccas Schwager Florian R. in seiner Kindheit aufgehalten hat. 

So durchkämmten die Ermittler am Montag das Haus seiner Großeltern in Tauche. Am Dienstag war dann ein Gelände in Herzberg an der Reihe, auf dem sie bis 2005 gelebt haben sollen.

Dass Florian R. im Mittelpunkt der Ereignisse steht, ist nichts Neues. Die Polizei nahm ihn in der Vergangenheit bereits zweimal fest, musste ihn jedoch in beiden Fällen wieder gehen lassen. Noch immer glauben die Beamten, dass der 33-Jährige Rebecca getötet haben könnte.

Rebecca Reusch verschwand am 18. Februar 2019

Die Kernfrage ist, was im Februar 2019 mit der Schülerin geschah. Nach Angaben von Polizei und Familie verbrachte sie die Nacht zum 18. Februar bei ihrer Schwester und deren Mann in Berlin-Britz. Rebeccas Schwester soll das Haus gegen 7 Uhr verlassen haben, um zur Arbeit zu fahren.

Unklar ist, was danach geschah. Fest steht nur: Die 15-Jährige kam nie in der Schule an. Ihre Leiche wurde bis heute nicht gefunden. Der Hauptverdächtige Florian R. bestreitet, etwas mit dem Verschwinden der Schülerin zu tun zu haben.

Rebeccas Familie steht offenbar hinter ihm. Sie hält den 33-Jährigen für unschuldig, wie aus mehreren übereinstimmenden Medienberichten hervorgeht. Auf eine Anfrage von FOCUS online wollte die Familie keinen Kommentar abgeben. Wenn Tatverdächtiger und Opfer aus den eigenen Reihen stammen, sind das oft enorm belastende Umstände. Das erklärt Axel Petermann, ein bekannter Kriminalist, operativer Fallanalytiker und Autor.

Petermann: "Starke emotionale Spannungen zwischen Hoffnung und Enttäuschung"

"In einer Situation, in der eine Familie erneut öffentliche Aufmerksamkeit und Vorwürfe gegen einen Angehörigen erlebt, entstehen oft starke emotionale Spannungen zwischen Hoffnung und Enttäuschung", sagt er zu FOCUS online. "Die Aussicht auf Klärung der Umstände, unter denen Rebecca verschwand, dürfte mit Ängsten vor neuen Anschuldigungen einhergehen."

Gleichzeitig könne es zu Spaltungen innerhalb der Familie kommen, weil verschiedene Mitglieder unterschiedlich reagieren – manche optimistisch, andere vorsichtig oder ablehnend – ,wodurch Loyalitätskonflikte gegenüber dem Schwager, der Öffentlichkeit oder der Rechtslage entstünden.

Leichenspürhunde durchsuchen ein Grundstück in Herzberg im Fall Rebecca.
Leichenspürhunde durchsuchen ein Grundstück in Herzberg im Fall Rebecca. Christophe Gateau/dpa

Florian R. hat laut Petermann womöglich Angst, "dass Funde so gegen ihn interpretiert werden, dass sie seine Schuld nunmehr endgültig beweisen sollen. Eine schlimme Situation für ihn, wenn die bisherigen Vorwürfe gegen ihn tatsächlich nicht zutreffen sollten."

Egg: "Das ist viel schlimmer, als wenn das Böse von außen kommt"

Auch der Kriminalpsychologe Rudolf Egg, der Gutachten für Gerichte und Justizvollzugsanstalten erstellt, sieht Rebeccas Familie unter Druck. "Die jetzigen Durchsuchungen wühlen alles wieder auf. Es gibt keine Ruhe mehr, nicht vor den Medien, der Justiz, der Polizei", sagt er im Gespräch mit FOCUS online.

Egg erklärt, dass es viele Fälle von verschwundenen Kindern gibt, die nie gefunden werden. Für die betroffenen Familien sei das schlimm genug. "Wenn aber der Verdacht im Raum steht, dass es ein Angehöriger gewesen sein könnte, fällt das schwer zu akzeptieren. Vor allem, wenn man denjenigen als netten Menschen kennt."

Der Psychologe kennt Familien, die "von jemandem aus dem eigenen Kreis zerrissen wurden". Zum Beispiel einen Vater, der seine Frau tötete. Die gemeinsamen Kinder leben heute bei den Großeltern. "So etwas ist nochmal schlimmer, als wenn das Böse von außen kommt. Es lässt sich nicht mehr wegdrücken. Es ist schmerzhaft nah."

Tatverdächtige und Opfer aus derselben Familie? Das sagen die Daten

Dass die Ermittler Florian R. ins Visier genommen haben, dürfte mit ihren Erkenntnissen über Rebeccas Verschwinden zusammenhängen. Gleichzeitig ist es keine Seltenheit, dass Opfer und Tatverdächtige bei Kapitalverbrechen wie Mord aus derselben Familie oder wenigstens dem gleichen sozialen Umfeld stammen. Das zeigt ein Blick auf die Zahlen.

Laut Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) aus dem Jahr 2024 waren bei vollendetem Mord nach Paragraf 211 Strafgesetzbuch in 89 von 285 Fällen Familienmitglieder oder (Ehe-)Partner tatverdächtig. In 67 Fällen pflegten Opfer und mutmaßliche Täter "informelle Beziehungen", waren also miteinander befreundet. 

"In meiner aktiven Zeit als Mordermittler oder Fallanalytiker habe ich immer wieder im familiären oder intimen Kontext gearbeitet, häufig unter Kategorien wie Intimizid oder partnerschaftliche Tötungen", sagt Petermann. "Häusliche Gewalt kann eskalieren und in tödliche Gewalt münden, besonders wenn Beziehungsprobleme, Macht- und Kontrollmechanismen sowie Gewaltspiralen eine Rolle spielen."

Ungewissheit quält viele Angehörige vermisster Menschen

Im Fall Rebecca Reusch ist vieles noch unklar. Womöglich werden die Durchsuchungen, die die Ermittler gerade in Brandenburg durchführen, Licht ins Dunkel bringen. Auch wenn die Erkenntnisse für die Angehörigen schmerzhaft sein könnten: Zuletzt waren nicht nur Leichenspürhunde, sondern auch ein sogenanntes Bodenradar im Einsatz. 

Damit lassen sich Verdichtungen im Untergrund feststellen, also etwa vergrabene Beweismittel oder Körper ausfindig machen. Die Polizei geht offenbar nicht mehr davon aus, Rebecca wohlauf zu finden. "Wir suchen hier aktuell keine lebende Person", sagte ein Polizeisprecher.

Kriminalpsychologe Egg hält die Ungewissheit für einen weiteren Punkt, der Rebeccas Familie zermürbt. Er weiß aus anderen Fällen: Gibt es eine Leiche, gibt es auch Gewissheit über den Verbleib des geliebten Menschen. "Dann ist wenigstens Raum zum Trauern da, so schlimm die Gesamtlage auch sein mag."