Erziehung: Eltern wollen nur das Beste für ihr Kind – und begehen großen Fehler

Den Kindern von heute geht es in vielerlei Hinsicht besser als Kindern vergangener Generationen. Viel mehr Kinder dürfen heute mit liebevollen, zugewandten Eltern aufwachsen. Mit Eltern, die sich eine Menge Wissen über die verschiedenen Entwicklungsstufen angeeignet haben. Mit Müttern und Vätern, die Bindung und Beziehung an erste Stelle setzen und die ihre Kinder bedürfnisorientiert und ohne Strafen begleiten wollen. Das ist ein gigantischer Fortschritt.

Und doch gibt es auch Probleme. Die Pädagogin und Familienbegleiterin Inke Hummel erlebt es fast täglich in ihren Beratungen: Zu ihr kommen Eltern, die von unselbstständigen und überforderten Kindern berichten. Von Kindern, die sich unzufrieden oder gar unglücklich zeigen. Manche Eltern machen sich Sorgen, weil ihre Kinder so unsympathisch wirken und sie sich fragen, wie sie jemals Freundschaften schließen sollen, erzählt sie.

Es seien Kinder, die fordernd sind und die Schwierigkeiten haben, mit unangenehmen Gefühlen gut umzugehen – vor allem mit Langeweile. Mit Momenten also, in denen ihnen niemand sagt, was sie tun sollen.

Über Inke Hummel

Inke Hummel, Pädagogin M.A. aus Bonn, arbeitet als Familienberaterin, im Bereich Fortbildungen für pädagogische Fachkräfte sowie als Autorin für Elternratgeber und Kinderbücher. Sie hat drei Kinder im Teenageralter. Außerdem engagiert sie sich im Vorstand des Vereins Bindungs(t)räume für eine positivere Sicht auf Kinder und bessere Eltern-Kind-Beziehungen.

Falsch verstandene Kind-Orientierung schadet auf Dauer

„Der Gedanke an eine sichere Bindung, an ein ,glückliches' Kind, steht stark im Fokus. Doch nur Wärme und Nähe zu geben, möglichst kon­fliktarm und behütet aufzuwachsen, macht nicht glücklich. Damit übernehmen Eltern nicht die vollumfängliche Erziehungsverantwor­tung für das, was ihr Kind braucht. Die ganz intensive Elternschaft von heute hat oftmals blinde Flecken! Dadurch ist etwas in Schieflage geraten“, schreibt Inke Hummel in ihrem neuen Buch „Zu viel des Guten, zu wenig fürs Leben“.

  • Humboldt-Verlag

    Bildquelle: Humboldt-Verlag

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Diese Schieflage, von der Hummel spricht, entstehe durch eine Mischung aus Kind-Überhöhung und falsch verstandener, beziehungsweise unvollständiger Kind-Orientierung.

Echte Kind­-Orientierung wäre es zu überlegen, was das Kind wirklich braucht, um psychisch und körperlich gesund aufzu­wachsen – und zwar langfristig betrachtet.

Kind-Orientierung werde aber oft falsch verstanden, nämlich kurzfristig: Was braucht das Kind jetzt gerade, um zufrieden zu sein? Und: Was können wir als Eltern tun, um dem Kind heute Stress oder andere unangenehme Gefühle zu ersparen?

„Kinder werden gegangen, statt selbst zu gehen“

Diese gut gemeinte Erziehungshaltung habe also zu häufig nicht im Blick, was langfristig das Beste fürs Kind ist, sondern solle eher kurzfristig ein gutes und sicheres Gefühl für das Kind, aber auch für die Erwachsenen schaffen.

„Kinder werden gegangen, statt selbst zu gehen“, sagt Inke Hummel im Gespräch. „Damit meine ich, dass viele Eltern den Alltag sehr stark durchorganisieren und kontrollieren. Unangenehme Gefühle durch Stress, Traurigkeit oder Langeweile halten sie von ihren Kindern fern, oder lenken davon ab. Aber wenn Kinder immer so schnell besänftigt werden, kann unbewusst das Gefühl in ihnen entstehen, dass sie dem Leben nicht gewachsen sind. Dass sie es allein nicht schaffen können. Die psychischen Auswirkungen, die hier entstehen können, halte ich für gefährlich.“

Die Schattenseite unvollständiger Kind-Orientierung ist, dass es den Kindern dann häufig an Bewältigungskraft fehlt und in der Folge auch an Lebenstüchtigkeit und Widerstandskraft. Denn sie haben nicht gelernt, unangenehme Gefühle wahrzunehmen und einen guten Umgang damit zu finden. 

Ihnen fehlt auch die Erfahrung, einen Konflikt konstruktiv zu lösen und auch in Situationen durchzuhalten, die herausfordernd sind. Langeweile können sie kaum aushalten und versuchen, das unangenehme Gefühl mit einem schnellen Dopamin-Ausstoß zu vertreiben – etwa mit Süßigkeiten oder Bildschirm-Unterhaltung.

Liebe und Bindung allein reichen nicht für eine gesunde Kindheit

Deshalb ist es Hummel so wichtig, diese blinden Flecken der modernen Erziehung zu benennen und den Eltern Lösungen aufzuzeigen.

„Die bedürfnisorientierte Erziehung ist grundsätzlich der richtige Weg“, sagt Hummel. „Dabei ist jedoch entscheidend, dass alle Bedürfnisse des Kindes beachtet werden.“

Folgende Tipps gibt Hummel Eltern dafür mit auf den Weg:

  • Bindung sichern Sie durch Feinfühligkeit, also einen guten Sinn dafür, was Ihr Kind braucht – nicht durch Konflikt­losigkeit.
  • Frustrationstoleranz und Motivation entwickelt Ihr Kind durch zugewandtes Zumuten, nicht durch Vermeidung.
  • Stressbewältigung lernt Ihr Kind durch Co­-Regulation, Strategiefindung und zugewandtes Zumuten, nicht durch Vermeidung

Für eine gesunde Entwicklung reichen Hummel zufolge nicht nur Liebe, Bindung und Harmonie. Sie braucht auch Kompetenzgewinn, Selbstwirksamkeit, Orientierung, Konfliktbewältigung und Durchhaltevermögen.

Diese letzten Bedürfnisse sind ebenso wichtig wie die ersten. Allerdings sind sie weniger leicht zu erfüllen. Denn dafür braucht es zunächst eine gewisse Anstrengung, Frust muss ausgehalten, schlechte Gefühle bewältigt werden, damit es sich langfristig gut anfühlen kann.

Echte Bedürfnisorientierung heißt, Kinder durch Herausforderungen zu begleiten

Beim Laufen lernen erleben Kinder beispielsweise genau das: Es ist anstrengend, es ist frustrierend, es gibt Rückschläge – aber dann, wenn es geschafft ist, kommt der unbändige Stolz und die große Zufriedenheit.

Und deshalb tut es Kindern auch in der späteren Entwicklung gut, wenn sie lernen dürfen, Frust auszuhalten, dranzubleiben, wenn es schwierig wird und wenn sie die Chance bekommen, an Herausforderungen zu wachsen.

Wie das gelingen kann? Durch einen Mittelweg: „Früher war die Haltung in der Erziehung meist: Da muss das Kind durch. Moderne Eltern haben häufig die Haltung: Da muss das Kind nicht durch. Echte Bedürfnisorientierung wäre aber, gemeinsam mit dem Kind in die Situationen zu gehen und zu schauen, wie es das Problem oder die Herausforderung denn lösen könnte – und dann Stück für Stück dem Kind die Verantwortung zuzutrauen. Diesen Mittelweg halte ich für sinnvoll.“

Die richtigen Kämpfe auswählen

Das bedeutet also explizit keine Abkehr von der kind­-, beziehungs­- und bedürfnisorientierten Erziehung, sondern eine Erweiterung oder auch Neuausrichtung. Es bedeutet nicht, dass Eltern ihre Kinder mit Frust, schlechten Gefühlen und anderen Herausforderungen alleine lassen sollen. Es ist vielmehr die Einladung, gemeinsam zu wachsen. Dem Kind die Hand zu reichen und es dann Stück für Stück in die Eigenverantwortung gehen zu lassen.

„Es geht nicht so sehr um ein ‚mehr‘, das Eltern tun sollen“, sagt Hummel. „Es geht um ein ‚anders‘. Sie können für die psychische Gesundheit ihres Kindes einen Unterschied machen, wenn sie sich die richtigen Kämpfe aussuchen.“