Schulqualität sinkt: Vier Pädagogen erklären, was an unseren Schulen schief läuft
- Im Video oben: Migrationsquote an deutschen Schulen: "Realitätsfern und kaum zu bewältigen"
Barbara Mächtle sagt, sie wolle nicht verschweigen, was andere schön reden. Ein Viertel der Erstklässler ließ die Grundschul-Rektorin daher im abgelaufenen Schuljahr laut "Welt am Sonntag" durchfallen. Alles andere bringe den Kindern nichts, sagt sie.
Mächtle leitet die Gräfenauschule in Ludwigshafen-Hemsdorf. Knapp 40 ihrer jüngsten Schüler müssen die Klasse im kommenden Jahr wiederholen. Viele kennen höchstens 100 deutsche Wörter, sagt die Rektorin. Deswegen hätten sie in allen Fächern große Wissenslücken. Ließe sie die Kinder trotzdem weiterkommen, verbessere das ihre Statistik. Die Schüler krebsten aber ihr ganzes Leben am Limit herum. "Diesen Weg will ich nicht gehen", sagt sie im Gespräch mit der Zeitung.
Problem 1: Schlechtes Deutsch
Auch andere Rektoren berichten in den Medien Ähnliches wie Mächtle: Grundschulen müssten sprachfremden Kindern zusätzlich zum Rechnen und Schreiben grundlegendes Deutsch beibringen. Das verzögere die Lehre. Lehrer und Schüler gingen gemeinsam unter.
Einige Rektoren versetzten auch Schüler mit größeren Lücken, um die Quote zu wahren, sagt Mächtle. Sie tue das nicht. Deswegen berichteten unter anderem die "FAZ" und nun die "Welt am Sonntag über sie.
Sicher ist Mächtles Schule in Ludwigshafen-Hemsdorf ein Extremfall. Der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund beträgt dort 98 Prozent. Im ganzen Ort hören Kinder alles, nur kein Deutsch, sagt die Rektorin. Mit Arabisch oder Russisch kämen sie besser durch den Alltag. Deswegen lernten die vielen, die zu Hause kein Deutsch sprechen, dieses auch nicht anderswo.
In den meisten Gegenden der Bundesrepublik treffen Kinder recht schnell auf Deutschsprachige: Mehr als drei Viertel aller Haushalte sprechen laut Statistischem Bundesamt zu Hause nur Deutsch. Nur sechs Prozent sprechen es gar nicht. Deutsch bleibt also weiter der Normalfall.
In einigen Gegenden leben aber besonders viele der Familien, die zu Hause kein Deutsch sprechen. Vieles deutet darauf hin, dass sich auch aufgrund sprachfremder Kinder die Qualität der Lehre dortiger Schulen verschlechtert.
Ohne gemeinsame Sprache scheitert Integration
Laut dem Bildungsmonitor des Instituts der deutschen Wirtschaft ist die Qualität deutscher Schulen deutlich gesunken: Für das Jahr 2013, die erste Ausgabe des Monitors, legte das IW den Wert 100 fest. In der jüngsten Ausgabe falle dieser auf 72, berichtet die Welt am Sonntag. Das entspricht einem Rückgang von mehr als einem Viertel.
In einigen Bereichen verbesserten sich die Schulen allerdings: Internationalisierung, Förderinfrastruktur, Betreuungsbedingungen. Laut Bildungsmonitor alles besser als vor zwölf Jahren. Die Lehre litt offenbar, weil Schulen bei der Integration scheitern. In dieser Kategorie sank der Wert von 100 auf 56 Punkte.
Scheitern die Schulen an der Integration, leidet Deutschland doppelt: Es verstärkt die Spaltung und bildet kommende Generationen schlechter aus. Nur: Wie soll Integration funktionieren, wenn Schüler kaum miteinander reden können?
Land und Schüler brauchen dringend Lösungen. Denn auf die Schulen kommen weitere Belastungen zu.
Problem 2: Zu wenige Lehrer, zu viele Aufgaben
Warum Grundschullehrer Erstklässlern nicht auch noch Grundlagen-Deutsch beibringen können, erklärt Andreas Baudisch. Er leitet auf der anderen Rheinseite von Ludwigshafen, in Mannheim, die Humboldt-Grundschule. "Was in den ersten sechs Jahren nicht passiert, holen wir nur schwer auf", sagt der 62-Jährige. Auch viele Probleme der Gymnasien beginnen in Kindergarten und Grundschulen.
Auch Baudisch klagt über die Überforderung seiner Lehrer: Zu große Klassen. Zu viele Sonderaufgaben wie Medienbildung und Verkehrsbildung. Zu viele Kinder mit Sonderbetreuungsbedarf, deren Eltern sich dem aber verweigern. All das verteile immer mehr Lasten auf die Schultern der gleichen Anzahl Lehrer. Seine Kollegen "reißen sich ein Bein" aus, sagt Baudisch. Doch zu viel sei eben zu viel.
Seit 2015 seien viel mehr Kinder in die Schulen gekommen als von den Kultusministerien erwartet, sagt Axel Plünnecke, Leiter des Clusters Bildung, Innovation, Migration am IW. Hintergrund ist vor allem die Migration durch die Flüchtlingswelle ab 2015 und den Ukraine-Krieg ab 2022. Deswegen fehlen Lehrer. Die, die da sind, verzweifeln an zu großen Klassen.
Kaum Hoffnung auf mehr Lehrer
Deutschland findet aber kaum ausreichend neue Lehrer. Auch an Schulen gehen in den kommenden Jahren mehr Leute in Rente als nachkommen. Mehr Lehrer auszubilden wäre eine Option. Aber dann fehlen diese Leute woanders. An der Demografie kommt niemand vorbei. Und von den angeworbenen Quereinsteigern gibt rund ein Drittel nach einigen Monaten wieder auf, sagt Mächtle. Deutlich mehr Lehrer wird es mittelfristig also kaum geben.
Die Politik setzt für Lösungen daher vor der Schuleinführung an: CDU und SPD haben im Koalitionsvertrag "flächendeckende, verpflichtende Sprach- und Entwicklungsdiagnostik für vierjährige Kinder" vereinbart. Bislang gibt es diese nur in einigen Bundesländern. Überall angewendet, sollen sie Sprachprobleme in einem Alter aufzeigen, in dem Kindergärten und Eltern noch gegensteuern können. Grundschulen könnten sich dann mehr auf Rechnen und Schreiben konzentrieren. Gleiche Anzahl Lehrer, aber weniger Aufgaben, so der Plan.
Problem 3: Zu wenig Geld
Katja Giesler hält die anstehenden Aufgaben für grundsätzlich bewältigbar. Die 44-Jährige ist Personalrätin der Geschwister-Scholl-Schule in Wiesbaden-Klarenthal. Sie sagt im Gespräch mit der "Welt am Sonntag": "Das Schlimme ist nicht, dass wir schwierige Kinder haben. Das Schwierige ist, dass wir ihnen die Zukunft verbauen."
Auch an Gieslers Schule besitzen vier von fünf Kinder einen Migrationshintergrund, sagt sie. Mit der entsprechenden Förderung könne die Einrichtung dies aber bewältigen. Die Förderung fehle allerdings: Nicht alle Lehrer hätten studiert. Förderschulkräfte seien selten geworden. Die Lehrkräfte seien überfordert.
Giesler hat eine Überlastungsanzeige angestoßen. 40 weitere Schulen aus dem Raum Wiesbaden schlossen sich an. Giesler: "Wir wollten zeigen: Das sind keine Einzelfälle, es geht ums System."
Helfen könnten zwei verpflichtende Kita-Jahre, sagt Giesler. Dann kämen Kinder vorbereiteter in die Schule. Dafür müsste der Staat dann aber auch ausreichend Kita-Plätze bereitstellen. Weil auch für diese das Personal fehlt, ebenfalls eine Herausforderung. "Wir brauchen kleinere Klassen. Ausgebildetes Personal, echte Sprachförderung, mehr Sozialpädagogen." Das koste Geld. Bleibt alles, wie es ist, komme es am Ende aber teurer.
Problem 4: Schwache Eltern, Hass im Netz
Allein lösen können die Schulen die Herausforderungen ohnehin kaum. Die Hauptverantwortung für die Zukunft ihrer Kinder tragen die Eltern. Doch auch einige von ihnen scheitern.
Einige Kinder wachsen in einer "brutalen Digitalwelt auf, mit Pornos, Gewalt und Hasspredigern", sagt der evangelische Pfarrer Bernd Siggelkow der "Welt am Sonntag". Der 61-Jährige unterstützt mit seiner "Arche" seit 30 Jahren Schulkinder im Ostberliner Viertel Hellersdorf.
Die Einflüsse aus dem Netz schaden vielen, sagt er: Hetzer schimpfen auf Ausländer, Frauen, Moslems oder Juden. Sagen Eltern ihren Kindern dann nicht, dass diese für ihre Probleme selbst verantwortlich sind, hören es einige nie.
Siggelkow sagt, er sehe Hass auf die Gesellschaft, auf das System. Er höre Karrierewünsche wie Influencer und Bürgergeldbezieher. Dass diese Kinder wenig Motivation für die Schule mitbringen, liegt auf der Hand. Sie tragen die Probleme ihres Elternhauses in die Schule.
Nun gab es schlechte Eltern schon immer. Keine Gesellschaft wird ihre Einflüsse je vollständig beseitigen. Pädagogen wie Siggelkow wollen aber, dass die Bundesrepublik diese Einflüsse zumindest verringert. Davon profitieren die Kinder dieser Eltern und ihre Mitschüler. Auch Siggelkow fordert im Interview mit der Sonntagszeitung dafür verpflichtende Vorschuljahre und mehr Lehrer.
Die Schulen drehen sich im Kreis
Damit schließt sich der Kreis der Schulprobleme: Laut Siggelkow sind Lehrer auch überfordert, weil ihre Schüler auf Hassprediger im Internet hereinfallen. Baudisch merkt aber an: Sollen Grundschullehrer Kindern auch noch die Medienkompetenz beibringen, diese Hassprediger zu erkennen, überfordert sie das auch.
Am Ende läuft also vieles auf zwei Forderungen hinaus: mehr Geld und mehr Lehrer. Dann bewältigen die Schulen die Herausforderungen. Das größere Problem dürften die Lehrer sein. Dafür braucht das Land mehr Kinder und mehr Zuwanderung. Erstere machen zu wenige, Zweiteres bemängeln viele. Damit dürfte jeder, der sich um die deutsche Bildung sorgt, wissen, wie er hilft, sie zu verbessern.