"Sie sagten, ich liege im Sterben": Ost-Politiker kämpft gegen Krebs und die AfD

FOCUS online: Herr Hey, Sie sitzen für die SPD im Thüringer Landtag, haben die Fraktion zehn Jahre geführt und kämpfen weiter gegen den Krebs. Wie geht es Ihnen?

Matthias Hey: Ich bin seit meiner Diagnose 2023 nach wie vor in Therapien, bekomme regelmäßig Infusionen und Untersuchungen, um den Krankheitsverlauf genau zu kontrollieren. Ich lebe also immer noch von Befund zu Befund.

Schaffen Sie alles, Job und Therapien? 

Hey: Ja, auch wenn die Landtagsarbeit herausfordernd ist. Ich habe jetzt zehn Arbeitsbereiche, arbeite in zwei Ausschüssen und mehreren Fachgruppen, habe mein Wahlkreisbüro in Gotha. Bei all den Terminen sind die Ärzte unerbittlich, was die Therapie angeht. Sie haben es geschafft, mich zu stabilisieren und sagen immer, ich soll es nicht übertreiben, denn meine Prognose war sehr ungünstig. Dass Sie mit mir jetzt noch reden können, grenzt schon an ein kleines medizinisches Wunder. 

Im Landtags-Wahlkampf vor einem Jahr wurden Sie aus AfD-Kreisen schon für tot erklärt, stimmt das? 

Hey: Ich war vor Ort immer sehr präsent, bei jedem Anlass, jedem Vereinsfest. Weil ich wegen der Therapie aber Menschenansammlungen meiden musste, konnte ich keinen aufwendigen Wahlkampf machen. Es gab dann sofort Leute aus dem blauen Lager, also AfDler, die haben auf Facebook, Telegram und WhatsApp behauptet: 'Bei dem brauchst du dein Kreuz nicht zu machen.' Sie sagten, ich liege im Sterben. Nach dem Motto: 'Wir wissen alle, wie krank er ist. Der kann doch sein Mandat gar nicht mehr antreten.' Ich war völlig schockiert und außer mir.

Behaupten die Leute das immer noch?

Hey: Viele von denen sind verwundert, dass ich noch lebe. Ich habe neulich auf meiner Facebook-Seite den Kommentar einer Frau gelöscht, die sinngemäß behauptet hat: 'Der ist doch schon so krank, kann gar nicht mehr regelmäßig in den Landtag kommen und kassiert nur noch die Diäten.' Ich sehe viele Hasskommentare. Hinter den Kommentaren stehen dann immer die blauen Herzen - das Erkennungszeichen der AfD-Anhänger. Gehetzt wird praktisch bei allem. Ein Beispiel:  Als ich stolz vermeldet habe, dass es jetzt endlich Geld für neue Straßenbahnen in Gotha gibt, hieß es: ,Aber für unsere Schulen oder Straßen tun Sie nichts - aber, aber, aber..."  Ich poste auf Facebook und Instagram kaum noch politische Inhalte, weil ich dann stets hinterher bei all den Hasskommentaren aufräumen muss.

Die AfD hatte bei der letzten Wahl Erfolg. Sie haben Ihren Wahlkreis, den Sie sonst immer gewonnen haben, verloren.

Hey: Ganz knapp. Es fehlten am Ende 27 Stimmen. Dass mit einer Krankheit eines Menschen Wahlkampf gemacht wird, hat mich erschüttert. Es gibt keine Strategie, die denen perfide genug ist.  Diese Grundanständigkeit, die es unter Demokraten gibt, ist bei denen komplett verlorengegangen.

Halten Sie weiter durch? Machen Sie weiter Politik? 

Hey: Ich bin hier in Thüringen seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten Politiker. Was mich berührt: Es gibt hier viele Menschen, die sich nach mir erkundigen, Briefe und Mails schreiben, manche geben selbstgemachte Marmelade in meinem Bürgerbüro ab. Aber wenn ich das Büro zuschließe, ist meine Stadt Gotha blau. Ich belaste trotz Krankheit meinen Körper sehr, und mir ist täglich sehr bewusst, dass ich nicht weiß, wie viel Lebenszeit mir noch bleibt. Aber eins weiß ich ganz sicher: jetzt aufzugeben, obwohl ich noch politisch arbeiten kann, das würde ich mir nie verzeihen.

Wie wollen Sie die AfD denn bekämpfen?

Hey: Wenn es ein Rezept geben würde, wie man ihr Einhalt gebieten kann, ich würde es in Flaschen abfüllen und in ganz Deutschland verschicken, versandkostenfrei! Da hat aber etwas angefangen, was nicht mehr aufzuhalten ist. Wir haben in Europa und weltweit einen Rechtsruck. Doch mit den Schultern zu zucken und zu sagen: 'Es ist jetzt eben so', ist keine Option. Wir müssen weiterkämpfen und den Leuten zeigen, dass es auch ohne Hass und Hetze geht. Auch, wenn einige mit Fakten und Argumenten nicht mehr zu erreichen sind. 

Gotha, Erfurt, Weimar und Jena: Thüringen ist doch sehr schön. Warum sind Leute frustriert und wählen AfD?

Hey: Ein westdeutscher SPD-Kollege war mal in Gotha zu Besuch und sagte: 'Bei euch sieht es aus wie in der Puppenstube. Warum sind eure Leute so unzufrieden?' Ich sagte, sanierte Städte und unzufriedene Menschen gibt es auch im Westen. Wenn ihnen dann immer jemand einredet, dass etwas schiefläuft in unserem Land, dass Flüchtlinge mehr bekommen als andere, dann verfängt das irgendwann. Jedes Handy ist heutzutage Multiplikator für Tausende Empfänger, bis diese Unzufriedenheit dann an unseren Kaffee- und Esstischen sitzt. Beim Hass auf die Juden lief es damals ähnlich.  

Im Osten erleben wir zusätzlich eine Deprivation bei den Menschen, wie es immer wieder in Studien nachzulesen ist. Heißt: Egal, wie gut es ihnen geht, sie fühlen sich trotzdem immer noch ein bisschen benachteiligt. Bei der Wiedervereinigung vor 35 Jahren ist eben doch nicht alles gutgegangen. Die gesellschaftliche Elite wurde in nahezu allen Ebenen ausgetauscht. Richterposten wurden zum Beispiel reihenweise mit Juristen aus dem Westen besetzt. Wenn Sie als Ostdeutscher Anfang der 1990er plötzlich vor einem Richter mit schwäbischem oder hessischem Dialekt stehen und der sein Urteil spricht, macht das etwas mit Ihnen. Und jetzt plakatiert hier die AfD "Vollende die Wende!" und behauptet, sie kann die Ungerechtigkeit gerecht machen. Viele Menschen glauben tatsächlich, mithilfe der AfD ein Stück ihrer Geschichte nachträglich umschreiben zu können. 

Aber Ostalgie und das ständige Rückbesinnen sind ein großes Problem im Osten. Sie fahren immer noch mit Ihrem DDR-Trabant durch die Gegend, oder? Muss das denn sein?

Hey: Ja, ich habe das Gefährt sehr lieb. Es hat mich durch mein ganzes Leben begleitet. Das ist nicht anders bei einem Menschen aus Fulda, der seinen alten VW-Käfer fährt oder alte Heinz-Erhardt-Filme mag.  Rückbesinnen kann schön sein und hat nicht immer mit Ostalgie zu tun. Ich will mit meinem Trabi keine Botschaft senden, das habe ich nicht vor. Ich kann mir aber vorstellen, dass Leute sagen: 'Da fährt ein waschechter Ossi, einer von uns.' Ich nehme Ihre Kritik insofern gerne mit.

Björn Höcke von der AfD fuhr am Wahltag vor einem Jahr auch mit einem russischen Lada vor. Ich denke, er tat das auch, um Ostalgie-Gefühle zu wecken. Ich fand das peinlich.

Hey: Viele sahen es auch so wie Sie. Ihre Kritik ist da durchaus bei mir angekommen.