Von den Machern der Storm Shadow: Europa baut neue Kamikaze-Drohne gegen Putin

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Russlands Speerspitze: die Lancet. Europas Armeen versuchen gerade auf Hochtouren, Russlands Vorsprung an herumlungernder Munition aufzuholen. © IMAGO / Vladimir Gerdo

Europa holt seinen Rückstand gegenüber Russland an autonomen Waffen auf. Den nächsten Entwicklungsschritt geht nun Frankreich mit zwei neuen Drohnen.

Paris – „Was wäre, wenn eine Rakete durch Verlangsamung präziser werden könnte?“ – als Kelsey Atherton diese Frage gestellt hat, war noch ein Jahr Zeit, bis Wladimir Putins Invasionsarmee die Ukraine überfallen sollte. „Loitering Munitions gibt einen Vorgeschmack auf die autonome Zukunft der Kriegsführung“, hat der Journalist in einem Beitrag für den Thinktank Brookings prophezeit und gewarnt, dass auf Politiker „dringende Fragen zur Regulierung des Einsatzes autonomer Waffen“ zukämen. Der Ukraine-Krieg hat diese Entwicklung fundamental beschleunigt, und offenbar nimmt Frankreich gerade Anlauf für den nächsten Entwicklungsschritt.

Wie das Magazin European Defence Review On-Line (EDR) berichtet, hat der Rüstungskonzern MBDA seine Akeron-Serie von Loitering Munition (herumlungernde Munition) um zwei Modelle erweitert: Vorgestellt wurden die jetzt auf der vom französischen Verteidigungsministerium nahe Bordeaux organisierten Rüstungsmesse SOFINS (Special Operations Forces Innovation Network Seminar). Die beiden Modelle werden bezeichnet als Akeron RCX 50 beziehungsweise Akeron RCH 170, wobei mit den Zahlen die Länge des Systems in Zentimetern beziffert wird, wie EDR On-Line erläutert – demnach bezeichnete das X ein System mit Drehflügeln, das H ergebe sich aus der Draufsicht aus Flügeln und Rumpf des Modells, schreibt dessen Autor Paolo Valpolini.

Lehren aus Ukraine-Krieg: „Europa schließt den Kreis in Sachen Loitering Munition“

Demnach seien die beiden Modelle offenbar hervorgegangen aus einer Ausschreibung der französischen Verteidigungsinnovationsagentur für Effektoren mit einer Reichweite von fünf Kilometern beziehungsweise einer Angriffsreichweite von 50 Kilometern. Der Zuschlag für den kleineren Effektor ging offenbar am Rüstungskonzern MBDA vorbei, wie EDR On-Line schreibt; allerdings geht der Akeron RCX 50 aus diesem Wettbewerb hervor, die Entscheidung über den längeren Effektor stünde noch aus. Laut Valpolini betont der Konzern MBDA, dass die Akeron-Modelle keine FPV-Drohnen (First-Person-View) seien, sondern tatsächlich autonom herumfliegende Munition.

„Der Einsatz von Loitering Munitions stellt langjährige Annahmen der Kriegsführung hinsichtlich der Reichweite, der Überlebensfähigkeit gepanzerter Fahrzeuge und der operativen Logistik in Frage.“

„Europa schließt den Kreis in Sachen Loitering Munition“, haben Anfang vergangenen Jahres Fabian Hinz und Tom Waldmyn geschrieben. In einem Aufsatz für den Thinktank International Institute for Strategic Studies (IISS) haben die beiden Analysten die französischen Bemühungen als ein gutes Beispiel benannt, wie Europa den technologischen Fortschritt an herumlungernder Munition aufzuholen versucht – beispielsweise gegenüber dem Iran. Die Akeron RCX 50 beispielsweise soll Mörser auf dem Gefechtsfeld unterstützen. Die kleine quaderförmige Waffe mit ihren vier Rotoren wird ähnlich wie eine Mörsergranate steil von einem Dorn aus gestartet, bringt sich dann in die Horizontale und marschiert ihren Weg zum Ziel.

Wie Paolo Valpolini schreibt, sei die Waffe innerhalb von fünf Minuten gefechtsbereit; inklusive des Hochfahrens des Steuerungs-Tablets sowie der Kopplung mit der Munition selbst. Die vier mittels Elektromotoren angetriebenen Rotoren würden die Waffe in einer maximalen Flughöhe von etwas mehr als drei Kilometern mit einer Geschwindigkeit von etwas mehr als 50 Kilometern pro Stunde maximal 40 Minuten durch die Luft bewegen können. Dadurch soll der Effektor auf Ziele nahe des Gefechtsgeschehens aber doch außerhalb der Sichtweite bekämpfen. EDR On-Line hebt als Vorteil des Systems mit Rotoren hervor, dass die Waffe auch durch Häuserschluchten fliegen oder auf dem Dach eines Gebäudes auf ihren Einsatz warten könne.

Die neue Drohnen-Realität: Künftig ein Ersatz für artilleristisches Fernfeuer

Der Gefechtskopf wird wohl um die 500 Gramm schwer sein und mit verschiedenen Munitionstypen gegen weichere und leicht gepanzerte Ziele wirken können. Ohne dass das Magazin kosten nennt, soll die Waffe jedoch relativ günstig sein; was ebenso für die größere Variante gelten soll. Der Akeron RCH 170 ist gedacht als Unterstützung oder möglicherweise zukünftig sogar als Ersatz für artilleristisches Fernfeuer gegen gepanzerte Fahrzeuge. Die Waffe kann Panzer von oben treffen, was ohnehin die Durchschlagskraft gegen die dort verbaute dünnere Panzerung erhöhen sollte, wie EDR On-Line vermutet. Der größere Akeron RCH 170 wird von einem Katapult aus gestartet.

MBDA ist ein multinationaler Konzern unter Beteiligung von Airbus, BAE Systems und Leonardo und eher bekannt für Marschflugkörper wie die in der Ukraine eingesetzten SCALP, Storm Shadow und Brimstone-Systeme. Mittlerweile schickt sich die Rüstungsschmiede an auch herumlungernde Munition zu entwickeln. „Das wachsende Interesse an Loitering-Munition hat eine Flut computergenerierter und realer Modelle solcher Systeme ausgelöst, die den Markt überschwemmen“, schreiben die IISS-Autoren Fabian Hinz, Tom Waldwyn in ihrer Studie. Auch in Deutschland treten jetzt das Münchner Unternehmen Helsing sowie die Berliner Stark Defense offensiv auf den Markt.

Putins Cleverness: Drohnen aktuell immer stärker Opfer elektronischer Gegenmaßnahmen

Loitering Munition sei eine Kategorie für sich, schreibt Brennan Deveraux. Sie einfach zusammen mit Drohnen gleichzusetzen, sei irreführend, argumentiert der Autor des Magazins War on the Rocks, da die Waffe eher einer intelligenten Rakete ähnele statt eines gesteuerten Flugobjekts. Darüberhinaus würden Drohnen aktuell immer stärker Opfer elektronischer Gegenmaßnahmen und würden deshalb häufig durch Glasfaserverbindungen gesteuert. Herumlungernde Munition hat einen autonomeren Aktionsradius und bleibt ein Verbrauchsgut wie eine Artilleriegranate.

Vermutlich bietet diese Waffengattung das Potenzial Artillerie neu zu denken. US-Drohnen wie die Switchblade – oder auch das jetzt vorgestellte kleine Akeron-Modell können in einem Rucksack transportiert werden und mittels kleiner mobiler Teams operieren anstatt beispielsweise als Mannschaft einer Haubitze selbst ein starres und gut zu identifizierendes Ziel zu bieten, während sie versuchten ihren Kampfauftrag zu erfüllen.

Wie die Europäische Verteidigungsagentur Ende Februar bekanntgegeben hat, hätten insgesamt 17 Mitgliedstaaten der EU Interesse an herumlungernder Munition bekundet – die European Defence Agency (EDA) würde deshalb versuchen, die Nachfrage zu bündeln und Anstrengungen zu gemeinschaftlicher Beschaffung zu unternehmen. Dazu würde die Industrielandschaft von entsprechenden Herstellern „kartiert“, um Hersteller für einsatzbereite Waffen dieses Typs zu identifizieren und von denen Informationen zu den Produkten und Systemen einzuholen.

Die neue Drohnen-Gefahr: Immer besteht das Risiko, das falsche Ziel zu verletzen

„Ursprünglich für einen bestimmten militärischen Zweck entwickelt, gehöre Loitering Munition dank Fortschritten in Sensorik, Miniaturisierung, Computerverarbeitung und Kommunikationsnetzwerken zu den modernsten autonomen Waffensystemen. Es ist verlockend anzunehmen, dass es sich bei Loitering Munition um eine Spezialwaffe mit einer begrenzten Anzahl von Zielen handelt“, hatte Kelsey Atherton kurz vor Ausbruch des Ukraine-Krieges geschrieben. Allerdings hat der Journalist damit auch seine Angst ausgedrückt, diese Waffen könnten binnen kürzester Zeit allein die Regie auf dem Schlachtfeld übernehmen.

Der Angriff auf ein gepanzertes Fahrzeug kann auch einen Transporter für verwundete Kräfte treffen. „So wie eine druckempfindliche Landmine nicht zwischen einem bewaffneten Soldaten und einem Bauern unterscheiden kann, besteht bei einem Algorithmus, der Sensordaten in Angriffsauslöser umwandelt, das Risiko, das falsche Ziel zu verletzen“, so Atherton. Nichtsdestotrotz wachsen durch diese Waffen mittlerweile auch kleinere Unternehmen aus der Informationstechnologie in den Rüstungssektor nach, wodurch sich der Markt nochmals dynamisieren wird, weil die Entwicklungen in kleinen, agilen Firmen angestoßen und die Produktion von ökonomisch gewichtigen Unternehmen übernommen werden wird.

Darüberhinaus wird die Bedeutung überkommender Waffen hinterfragt werden müssen – beispielsweise die von Panzern, wie Brennan Deveraux vermutet. Er geht aus von einer Veränderung des Charakters des Krieges – einer „Demokratisierung“ von Bewaffnung. „Der Einsatz von Loitering Munition stellt langjährige Annahmen der Kriegsführung hinsichtlich der Reichweite, der Überlebensfähigkeit gepanzerter Fahrzeuge und der operativen Logistik in Frage.“

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