Ein einfaches Leben in Starnberg

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Jochen Ebner vor dem Haus an der Vordermühle, in dem sein Großvater Nikolaus Ebner einige Jahre lang mit seiner Familie lebte. © Andrea Jaksch

Jahrelang hat Jochen Ebner aus Starnberg die Geschichte seines Großvaters Nikolaus recherchiert. Der wurde von den Nazis 1942 abgeholt und in die Herzogsägmühle gebracht, wo er am 8. Juni 1945, wenige Wochen nach Kriegsende, starb. Nun hat Ebner die Geschichte erstmals öffentlich erzählt.

Starnberg – An jenem 16. September 2022 hatte die Geschichte zum ersten Mal ein Gesicht. Jochen Ebner durfte in der Diakonie in Herzogsägmühle Einblick in die Akte von Nikolaus Ebner nehmen, und da fiel ihm als Erstes ein Passfoto des Mannes auf, der sein Großvater war. Das Haar ist dünn, der Oberlippenbart entspricht der damaligen Zeit, aus dem Blick sprechen die Entbehrungen eines schweren Lebens.

Nikolaus Ebner wurde im Dezember 1886 in Niederbayern geboren und lebte seit 1922 in Starnberg. Am 20. Juli 1942 wurde er von den Nazis zu Hause an der Ottostraße abgeholt und nach Herzogsägmühle gebracht, wo er am 8. Juni 1945, wenige Wochen nach Ende des Zweiten Weltkriegs, starb. In dem Zentralwanderhof wurden im Dritten Reich 6000 sogenannte Nichtsesshafte und Asoziale eingewiesen, Männer und Jugendliche, die nicht dem Menschenbild der Nazis entsprachen. Sie mussten unter militärischem Drill und schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen Zwangsarbeit leisten. 376 Männer zwischen 60 und 78 Jahren starben an Unterversorgung, sieben begingen Selbstmord, 30 starben an ungeklärter Ursache und 18 wurden ins KZ Dachau überstellt, wo 14 von ihnen ums Leben kamen.

Jochen Ebner ist Jahrgang 1956, hat diesen Großvater genauso wenig erlebt wie den anderen, der in Russland gefallen war. Auch aus der Familie gab es nur wenig Informationen über Nikolaus Ebner, woraufhin sich Jochen Ebner selbst auf die Suche machte. Was ist seinem Großvater passiert? Warum wurde er von den Nazis weggebracht? Wer war er überhaupt? „Es wäre schade, wenn das in Vergessenheit gerät“, sagt der 68-Jährige im Gespräch mit dem Starnberger Merkur. Also recherchierte Ebner mehrere Jahre lang – im Starnberger Stadtarchiv, im Institut für Zeitgeschichte, bei der Diakonie in Nürnberg und in Herzogsägmühle sowie im Markt Peiting, zu dem Herzogsägmühle gehört. Dort hielt er am 20. November vergangenen Jahres anlässlich einer Gedenkveranstaltung einen Vortrag über seinen Großvater, den der Merkur auszugsweise druckt:

„Nikolaus Ebner wurde am 5. oder 6. 12. 1886 in Kleineichberg/Pfarramt Seeberg (Niederbayern) geboren. Leider gibt es aus dieser Zeit keine weiteren Hinweise, lediglich die Tatsache, dass er dort die aus Ittling stammende Karoline Schreiner kennengelernt haben muss. Aufgrund mangelnder Arbeit und einer gewissen Notsituation, es waren ja einfache Leute aus dem Bayerischen Wald, beschließen sie, ihr Glück im Münchner Umland zu versuchen.

Sie ziehen 1922 nach Starnberg und am 9. 6. 1923 wird das Paar in der Starnberger St. Josefskirche durch Pfarrer Michael Ostheimer getraut. Innerhalb von sechs Jahren kommen vier Kinder zur Welt, drei Mädchen und ein Junge. Nikolaus Ebner war ein einfacher Arbeiter, ein Tagelöhner. Er hatte keinen festen Beruf, sondern war Hilfsarbeiter und arbeitete immer nur zeitweise für Starnberger Betriebe, unter anderem als Maler. Bei der Stadt Starnberg war er zeitweise als Leichenträger beschäftigt.

Am 25. 9. 1938 schreibt die Stadt Starnberg an das Bezirksamt und bittet um Einweisung nach Herzogsägmühle:

„Es ist amtsbekannt und wird auch dem Bezirksamt bekannt sein, dass Ebner den ganzen Tag von zu Hause weg ist und in der Stadt herumlungert. Dabei vergeht kein Tag, dass er Einheimische und Fremde anbettelt und sich Geld entweder für Bier oder zum Besuch des Kinos verschafft. Auch als Fremdenführer bietet er sich an. Besonders Ärgernis erregend ist sein Benehmen bei Trauungen in der Kirche und bei Beerdigungen. Er ist in seiner läppisch aufdringlichen Art immer der Erste, der gratulieren bzw. kondolieren will, und zwar in einer Art, die abstoßend wirkt. Bei Ableben männlicher Personen ist er, kaum dass der Tod bekannt ist, derjenige, der im Sterberaum Anzüge und Wäsche für sich bettelt. Mit den Schulkindern balgt er sich auf der Straße herum.“

Das Gesuch wird zunächst vom Bezirksamt abgelehnt, da die Schilderungen als nicht strafrechtlich relevant gelten. Es ist leider nicht mehr feststellbar, was in dem Schreiben der Stadt Starnberg Dichtung und Wahrheit ist.

Durch dieses Verhalten ge㈠riet er ins Visier der Nationalsozialisten. Er wurde als Asozialer gebrandmarkt und man versuchte, ihn loszuwerden. Alleine die Vorstellung ist irritierend. Ein kleiner Tagelöhner geht den Nazis so auf die Nerven, dass sie beabsichtigen, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Eine unvorstellbare Barbarei. Es gibt Hinweise darauf, dass er sich auf Parteiveranstaltungen der Nationalsozialisten mehrfach lautstark und deutlich gegen Hitler artikuliert hat. Für mich stellt sich daher die Frage, ob mein Großvater wirklich nur ein schräger Vogel gewesen ist oder ob er durch die bittere Armut quasi zu so einem Verhalten gezwungen war, um seine Familie über Wasser zu halten. Er passte jedenfalls nicht in das Weltbild der Nazis. Aber gleich mit schwerem Geschütz auffahren und ihn aus der Gesellschaft nehmen? 

Damit hatte die traurige und einsame Geschichte meines Großvaters nun endlich ein Gesicht bekommen und ich habe ein Bild von meinem Großvater. Das macht mich unheimlich stolz und ist der ersehnte Lohn nach jahrelanger Suche.

Juden und politisch Andersdenkende wurden in die Konzentrationslager verschleppt und dort ermordet, körperlich und geistig behinderte Menschen wurden in Krankenanstalten als Versuchskaninchen missbraucht und getötet, Obdachlose und Asoziale brachte man unter anderem in den Wanderheimen unter. Das war die Rassentheorie der Nationalsozialisten. Menschen, die nicht in ihr Schema des arischen Menschen passten, wurden der Gesellschaft entzogen.

1942 versucht es die Stadt Starnberg erneut mit einem Antrag an das Bezirksamt. Diesmal mit Erfolg. Am 20. 7. 1942 wurde Nikolaus Ebner in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von der Schutzpolizei Starnberg abgeholt und nach Herzogsägmühle gebracht.“

Dass sein Großvater dort am 8. Juni 1945 gestorben war, hatte Jochen Ebner bereits vor zwanzig Jahren vom Starnberger Stadtarchiv erfahren. Richtig Schwung bekam die Recherche aber erst nach einer erneuten Nachfrage im Jahr 2022. In der Folge bekam Ebner aus Peiting eine Sterbeurkunde seines Großvaters in Kopie zugeschickt, als Todesursache war „chronische Herzmuskelerkrankung“ eingetragen. Und es gab eine Akte über Nikolaus Ebner, die bei der Diakonie in Nürnberg lagerte. Am 16. September 2022 konnte Jochen Ebner sie in Herzogsägmühle einsehen – inklusive des Passfotos, das 1944 in Schongau aufgenommen worden war.

„Damit hatte die traurige und einsame Geschichte meines Großvaters nun endlich ein Gesicht bekommen und ich habe ein Bild von meinem Großvater. Das macht mich unheimlich stolz und ist der ersehnte Lohn nach jahrelanger Suche“, sagt Jochen Ebner. Er zeigte das Bild auch seinem Vater. „Er erkannte seinen Vater nicht, aber in seinen Augen sah ich Tränen. Drei Wochen später starb mein Vater und ich bin mir erst später so richtig bewusst geworden, wie wertvoll dieser Fund für ihn gewesen sein mag.“ Und Jochen Ebner zieht noch eine Erkenntnis aus seiner Suche. „Frage deine Mitmenschen, bevor sie ins Jenseits eintreten.“ Er selbst hat für seine Kinder und Enkelkinder bereits seine Autobiografie geschrieben. Die Geschichte seines Großvaters soll in ein Buch über Herzogsägmühle Eingang finden.

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