Wie im Märchen: Zeitungsausträgerin wird zum rettenden Engel
Es ist ein Weihnachtsmärchen: In der Schneenacht auf den 2. Dezember strandet eine Frau mit ihrem Auto in Oberhausen und wird eingeschneit. Als sie in den Morgenstunden vor Kälte nicht mehr kann, erscheint eine Zeitungsausträgerin – und wird zur Retterin.
Oberhausen – Kerstin Hahl sitzt seit Stunden in ihrem Auto und schaut auf Schnee, Schnee und nochmal Schnee. Und es wird immer noch mehr. Es ist 4.30 Uhr, draußen herrschen Minusgrade, drinnen in ihrem Smart ist es nicht viel wärmer. Hahl parkt seit 22.30 Uhr auf dem Parkplatz des Stroblwirts in Oberhausen. Sie will heim, doch die Schneemassen lassen ihr keine Wahl. Obwohl sie in vier Decken gewickelt ist, friert die 52-Jährige unablässig. Sie ist bald am Ende ihrer Kräfte.
Da nähert sich ein Auto, eine Frau steigt aus. Hahl öffnet die Autotür und geht auf sie zu. „Wo kommst du denn her?“, ruft die andere. „Ich komm’ vom Stadl“, sagt Hahl und deutet auf den großen Carport, in dem ihr Auto parkt und in der sie die Nacht verbracht hat. Die andere Frau, sie heißt Brigitte Scheffel, ist sprachlos – und ahnt nicht, dass sie gerade zur Retterin wird.
Der Schneefall will einfach nicht aufhören
Sechs Stunden vorher ist Hahl auf dem Heimweg von einer Veranstaltung bei Bad Tölz. Das Winterwetter war vorhergesagt. Hahl hat sich trotzdem entschlossen, den Weg von der Nähe von Kempten aus, wo sie wohnt, auf sich zu nehmen. „Der Vortrag war mir wichtig“, sagt sie.
Als sie nach Hause aufbricht, schneit es schon massiv. Doch sie entscheidet sich loszufahren, es werde schon irgendwann aufhören. „Ich habe schon auf einer Alm gelebt, es hört immer irgendwann auf.“ Dieses Mal sind die Schneemassen aber andere. Meteorologen sprechen von einem Kaltluftpfropfen mit unwetterartigem Schneefall, der da in der Nacht herunterkommt. Und Hahl ist mittendrin.
Das Navi leitet Hahl über Oberhausen Richtung Allgäu. Bis dahin konnte sie „im zweiten Gang mit maximal 50 km/h ganz gut vorankommen“. Doch dann wird es glatt. Sie biegt ins Dorf ab und bleibt auf einem Parkplatz stehen. Als sie realisiert, dass sie beim Stroblwirt und damit einem Gasthaus gelandet ist, ist sie erleichtert. Sie will sich ein Zimmer für die Nacht nehmen.
Vier Decken und eine Thermoskanne
Auf dem Parkplatz verhockt sie erst einmal, drei Männer helfen ihr mit Schaufeln und Muskelkraft, das Auto aus dem bereits knietiefen Schnee zu befreien. Hahl parkt in einem größeren Unterstand, einem offenen Stadel. Im Wirtshaus dann die Ernüchterung: Es gibt keine Zimmer zu mieten. Hahl erklärt, dann müsse sie wohl im Auto schlafen. Eine Bedienung versorgt sie mit vier Decken, der Wirt lässt sie noch auf die Toilette gehen und ihre Thermoskanne auffüllen. Dann sperrt er zu, im Haus gehen die Lichter aus – und Hahl sitzt in der Dunkelheit in ihrem eiskalten Auto.
„Ich habe immer mal wieder Autos vorbeifahren gesehen und mich gewundert, wie die das machen“, erzählt sie. Drei Mal steigt sie aus und überprüft, ob sie mit dem Auto nicht doch noch wegkommt. „Doch der Schnee war zu hoch.“ An Schlaf ist nicht zu denken. Und es wird immer kälter, sie friert entsetzlich. „Ich habe wirklich Angst gekriegt“, gesteht sie.
Diese Angst vor dem Erfrieren war es auch, die sie bewegt, um 4.30 Uhr aus dem Auto auszusteigen und Brigitte Scheffel anzusprechen. Hahl ist skeptisch gegenüber Fremden, ist aus Kindheitstagen traumatisiert und kann sich nur schwer auf unbekannte Menschen einlassen. „Für mich war das ein Riesen- Schritt, auf Gitti zuzugehen.“ Sie überwindet sich und spricht sie an: „Ich habe gesagt: Darf ich mitfahren zu ihnen in ihre Stube? Mir ist so kalt.“
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Scheffel war an dem Morgen früher als sonst unterwegs. Sie ist Zeitungsausträgerin und ahnt schon, dass es schwierig werden könnte. „Ich wollte gerade abbrechen, es war kein Durchkommen. Da steht beim Strobl diese Frau, mittendrin in all dem Schnee“, erinnert sich die 54-Jährige.
Die beiden Frauen wollen in n Kontakt bleiben
Sie habe sie sofort ins Auto gesetzt und zu sich nach Hause gebracht. „Wir haben ihr Tee gemacht, Platzerl hingestellt, ein Feuer im Ofen gemacht, eine Decke gebracht. Und ich habe ihr Kleidung gegeben, ihre war nicht mehr trocken.“ Nach und nach taut Hahl auf – körperlich und auch emotional. „Ich kenne das aus meiner Biografie nicht, dass man so aufgenommen wird“, sagt Hahl rückblickend.
Als sie am Mittag von ihrem Partner abgeholt wird, haben sich die beiden Frauen angefreundet und versprochen, in Kontakt zu bleiben. „Dass Gitti mir einfach so geholfen hat, das bewegt mich immer noch sehr.“ Und sie ist dankbar für die Erfahrung, dass manchmal auch einfach „nur die Menschlichkeit zählt“. Für Scheffel ist es selbstverständlich, dass sie geholfen hat. „Kerstin hat Obhut gesucht und mich gefunden.“ In ihren Augen ist es ein „Geschenk Gottes“, dass sie sich in dieser Schneenacht kennengelernt haben. Ein Weihnachtsmärchen eben.