Devise „Rette sich, wer kann“ - Machtgeklüngel in der SPD: Wer trotz Wahldebakel jetzt noch hoffen darf
Der Namen Olaf Scholz tauchte in einer E-Mail der SPD an ihre Unterstützer vom Freitag schon gar nicht mehr auf. Bereits seit Wochen wird innerhalb der SPD hinter vorgehaltener Hand diskutiert, wie sich die Sozialdemokratie in der Post-Scholz-SPD aufstellen kann.
„Das System Scholz ist in Auflösung begriffen“, sagte ein erfahrener SPD-Stratege kürzlich. In der Partei scheine die Devise zu herrschen „Rette sich, wer kann.“ Aber wer kann sich retten? Und wer gewinnt künftig Macht in der kräftig dezimierten SPD?
Unabhängig davon, dass die Regierungsbildung sehr kompliziert zu werden droht, darf die SPD damit rechnen, gebraucht zu werden. Die Frage wird sich zwar stellen, ob sie überhaupt wieder in Regierungsverantwortung will – aber auch jene, ob es umgekehrt verantwortbar wäre, sich zu verweigern. Vom endgültigen Wahlergebnis und den Optionen, die sich daraus ergeben, hängt auch für die interne Debatte viel ab.
Wer aus den Reihen der SPD kann sich nach der Wahlschlappe noch Chancen ausrechnen? Für wen ist die Karriere vorbei?
Boris Pistorius
Wäre Boris Pistorius, 64, Kanzlerkandidat geworden, hätte er wohl ein klar besseres Ergebnis geholt als Scholz, heißt es jetzt in der SPD. Etliche Sozialdemokraten hatten nach dem Scheitern der von Scholz geführten Ampel-Koalition gehofft, der Kanzler werde zugunsten von Pistorius verzichten. Jetzt kann Pistorius sagen: An mir lag es nicht.
Der Verteidigungsminister ist schon lange der beliebteste Politiker Deutschlands. Sollte die SPD weiter regieren, dürfte Pistorius erneut Minister werden, womöglich Vizekanzler. Dass er Verteidigungsminister bleibt, ist eher zweifelhaft. Pistorius ist Generalist, er könnte auch Innen-, Finanz- oder Außenminister werden. Und sich damit in die Position eines künftigen Kanzlerkandidaten bringen.
Lars Klingbeil
Die SPD-Co-Vorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken sind, neben Scholz, maßgeblich mitverantwortlich für das Wahldebakel. Dennoch soll Klingbeil nach der Niederlage seiner Partei auch die Führung der Bundestagsfraktion der Sozialdemokraten übernehmen. Dies habe das SPD-Präsidium bei einer Sitzung am Sonntagabend „einstimmig vorgeschlagen“, sagte Klingbeil in den ARD-„Tagesthemen“. Damit sollten Partei- und Fraktionsvorsitz künftig „in einer Hand liegen“.
Seinen Machtanspruch demonstrierte Klingbeil auch auf der Bühne im Willy-Brandt-Haus. Er sprach von einem Generationswechsel, der nun kommen müsse, als wolle er damit sagen, dass nun die Zeit für ihn, der noch immer als Zukunftshoffnung gilt, gekommen ist.
Klingbeil kommt zugute, dass die SPD nun handlungsfähig sein muss. Er könnte die SPD in Sondierungen und Koalitionsverhandlungen führen, am Ende ins Kabinett einziehen. Etwa als Außenminister oder Finanzminister, zudem womöglich als Vizekanzler.
Klingbeil, der am Wahlsonntag 47 Jahre alt wurde, mangelt es an Regierungserfahrung. Als Minister würde er dieses Manko auswetzen, sich in Position bringen für die Kanzlerkandidatur zur nächsten Bundestagswahl.
Saskia Esken
Schon im vergangenen Jahr forderten Parteifreunde die SPD-Co-Vorsitzende Esken, 63, öffentlich zum Rücktritt oder zum Verzicht auf Talkshow-Auftritte auf. Esken folgte weder dem einen noch dem anderen.
Esken ist als Co-Vorsitzende gewählt, und Klingbeil brachte am Sonntagabend Klarheit in die Frage, was aus ihrem Posten wird: Esken soll laut Klingbeil neben ihm an der SPD-Spitze weiter im Amt bleiben.
Doch noch am Wahlabend war unter den versammelten Genossen im Willy-Brandt-Haus mit Blick auf Esken schon davon die Rede, Selbsterkenntnis sei der erste Weg zur Besserung. Das klang nach der Hoffnung auf einen selbstbestimmten Rückzug. Kommt es so, könnte der ordentliche Bundesparteitag vorgezogen worden. Übrigens: Für die mögliche Abstimmung über einen Koalitionsvertrag wird es ohnehin einen Parteitag geben müssen.
Bärbel Bas
Mit der Bundestagswahl vom Sonntag hat die SPD den Status als stärkste Fraktion verloren. Damit geht der Verlust eines wichtigsten Amtes einher. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, 56, muss mit der Konstituierung des neuen Bundestages ihr Amt abgeben.
„Sollte Saskia Esken auf den SPD-Parteivorsitz verzichten, wäre Bärbel Bas eine exzellente Nachfolgerin.“
Axel Schäfer, SPD-Bundestagsabgeordneter
Bas aber ist in der SPD und darüber hinaus geschätzt. Sollte sie womöglich Saskia Esken an der Parteispitze beerben? Am Montag brachten SPD-Politiker Bas als künftige Parteichefin ins Gespräch. „Ich freue mich, dass Lars Klingbeil den Fraktionsvorsitz machen wird.
Daneben sind Bärbel Bas und Boris Pistorius weitere Personen, die nun noch stärker Verantwortung in unserer Partei und Fraktion übernehmen sollten“, sagte der SPD-Bundestagsabgeordnete Adis Ahmetovic dem Tagesspiegel. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Axel Schäfer sagte dem Tagesspiegel: „Sollte Saskia Esken auf den SPD-Parteivorsitz verzichten, wäre Bärbel Bas eine exzellente Nachfolgerin. Sie ist bodenständig, sympathisch, erfahren. Mit Bärbel Bas könnte die SPD in Deutschland punkten.“
Bas stammt aus Nordrhein-Westfalen. Bisher wird die NRW-SPD durch Gesundheitsminister Karl Lauterbach und Entwicklungsministerin Svenja Schulze repräsentiert. Dass Lauterbach noch einmal Minister wird, gilt als extrem unwahrscheinlich. Bei Schulze ist es ungewiss, sie bliebe aber gern im Kabinett.
Hubertus Heil
Dass Hubertus Heil, 52, erneut Arbeitsminister wird, ist mehr als zweifelhaft. Ein dritter Mann aus Niedersachsen, neben Pistorius und Klingbeil, als SPD-Minister? Ausgeschlossen.
Heil aber ist in der SPD beliebt und hat den Ruf eines soliden Arbeiters. Sollte er sich um den Fraktionsvorsitz bemühen, um die Nachfolge von Rolf Mützenich? Gut möglich.
Rolf Mützenich
Am Dienstag wird Rolf Mützenich, 65, die gemeinsame Sitzung der bisherigen und der künftigen SPD-Bundestagsabgeordneten leiten. Ob er sich am Mittwoch, womöglich übergangsweise, noch einmal zum Vorsitzenden wählen lassen will?
Mützenichs Machtinstinkt wird oft unterschätzt. Er könnte den Fraktionsvorsitz nutzen, um doch noch Minister zu werden. Oder setzt er gleich auf die Karte Bundestags-Vizepräsident? Das wäre ein gesichtswahrender Abgang für einen Mann, der wie kaum ein anderer für das System Scholz steht.
Anke Rehlinger
Beliebt, angesehen, erfolgreich und ohne eine Berliner Vergangenheit ist die saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger. Rehlinger, 48, seit 2022 Ministerpräsidentin an der Saar, SPD-Vize seit 2019, war als SPD-Vorsitzende im Gespräch.
Zehn Jahre war sie bereits Ministerin, als ihr 2022 das Unvorstellbare gelang und sie mit der SPD eine absolute Mehrheit holte. Pompöse Auftritte sind Rehlinger fremd, immer wieder verweist sie darauf, dass ihr „kleines“ Saarland nur eine Million Einwohner habe.
Doch am Montag lehnte sie den Posten ab und sagte im ARD-“Morgenmagazin“, dass es mit Saskia Esken bereits eine Parteivorsitzende gebe.
Matthias Miersch
Hals über Kopf übernahm Matthias Miersch, 56, im Oktober 2024 das Amt des SPD-Generalsekretärs für den erkrankten Kevin Kühnert. Miersch ist maßgeblich verantwortlich für das Wahldebakel, er gilt als Verbündeter des SPD-Vorsitzenden Klingbeil.
Miersch könnte sich ebenfalls um den SPD-Fraktionsvorsitz bewerben. Nachteil für Miersch: Wie Klingbeil, Pistorius, Heil ist er ein Mann aus Niedersachsen. In der Proporz-Partei-SPD ein echtes Problem.
Klara Geywitz
Gute Chancen, im Kabinett zu bleiben, sofern die SPD regiert, hat Klara Geywitz, bisher Bauministerin. Sie vertritt den Osten im Kabinett.
Ob sie weiter dieses Amt anstrebt, ist ungewiss. Sie könnte auch etwa Familien- oder Gesundheitsministerin werden.
Nancy Faeser
Die wenigsten in der SPD rechnen damit, dass Innenministerin Nancy Faeser, 54, ins Kabinett zurückkehrt oder eine wichtige Rolle in ihrer Partei übernehmen wird.
Faeser aber kandidiert erstmals für den Bundestag. Sie war Ende 2021 aus der hessischen Landespolitik nach Berlin gewechselt.
Dagmar Schmidt und Dirk Wiese
Als Aspiranten auf ein Ministeramt gelten die beiden stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden Dagmar Schmidt und Dirk Wiese. Schmidt, 51, ist Sozialpolitikerin aus Hessen. Wiese, 41, ist Innenpolitiker aus Nordrhein-Westfalen.
Schmidt und Wiese wollten sich zu möglichen Ambitionen auf Tagesspiegel-Anfrage nicht äußern. Genannt wird ferner Verena Hubertz, 37, ebenfalls Fraktionsvize, zuständig für Wirtschaft und Bauen.
Person X
Nach einer Wahlniederlage solchen Ausmaßes müsse sich die SPD neu aufstellen, auch personell, heißt es in SPD-Kreisen. Dazu zähle es, mit frischen, bisher weitgehend unbekannten Gesichtern als Ministerinnen und Ministern auf sich aufmerksam zu machen.
Man könne nicht in einer solchen Lage den Eindruck eines „Weiter so“ vermitteln. Vielleicht müssten auch bisherige Landespolitiker Verantwortung im Bund übernehmen, ist zu hören.
Von Daniel Friedrich Sturm, Karin Christmann
Das Original zu diesem Beitrag "Wie stellt sich die SPD nach dem Debakel auf?: Diese Politiker könnten jetzt Verantwortung übernehmen" stammt von Tagesspiegel.