Gastkommentar von Gabor Steingart - Um ihren Untergang zu vermeiden, muss die SPD nun ihr zentrales Versprechen einlösen
Viele sagen leichtfertig dahin, sie machten sich über die Politik keine Illusionen mehr. Dabei ist die Zukunft der Illusion gesichert. Die große Koalition, die sich jetzt bildet, weil sie sich bilden muss, besteht in ihrem Kern aus nichts anderem als Illusion, die wir als unsere Sehnsüchte tarnen.
Zwischen CDU und SPD gibt es einen Beziehungszwang
Es gibt keine Vorarbeiten. Es gibt keine Verabredungen. Es gibt keinen gemeinsamen Willen. Es gibt noch nicht mal einen juristischen Zwang, diese Koalition tatsächlich zu bilden. Warum das wichtig ist: Das Volk hat gewählt
, aber nicht entschieden. Die Summe aller Teile addiert sich noch nicht zu einem Ganzen.
Wobei: Zwischen CDU und SPD gibt es jetzt das, was die Psychologen einen Beziehungszwang nennen. Beide Partner werden sich inhaltlich substanziell bewegen müssen, wenn diese neue Regierung stabiler sein soll als die alte.
SPD muss jetzt den Sozialstaat verteidigen, um Untergang zu vermeiden
Der SPD steht eine Asylwende bevor, wie sie die Sozialdemokraten in Großbritannien und Dänemark erfolgreich exerziert haben. Die Union wiederum wird die Schleusen der Verschuldung öffnen müssen, um ihr Aufrüstungsversprechen zu erfüllen und den Sozialstaat nicht zu schrumpfen. Denn den muss die SPD bei Strafe ihres Untergangs verteidigen mit aller Restenergie, die sie besitzt.
Die Grünen von Robert Habeck haben mit dem Misserfolg von Sahra Wagenknecht (die knapp an der 5-Prozent-Hürde scheiterte) die Aufenthaltsgenehmigung in den Sphären der Macht verwirkt. Habeck wurde vom Amtsträger zum Zuschauer degradiert. Sein im Wahlkampf erfolgter Zuruf, unter ihm als Kanzler werde Christian Lindner nicht Finanzminister, wird als Steilflug in die Galaxie des Größenwahns in Erinnerung bleiben.
Lindners Abgang und das Dilemma der FDP
Doomsday bei der FDP: Lindner wiederum hat mit seinem Ausstieg aus der Koalition – ungewollt, aber nicht minder zielstrebig – auch seinen Ausstieg aus der Politik vorbereitet. Der Liberalismus in Deutschland (der gestern 350.000 Menschen weniger als Sahra Wagenknecht überzeugen konnte) wird sich nach einer neuen Kühlerfigur umschauen müssen.
Gestern Abend in der Berliner Runde von ARD und ZDF war ein physisches Novum zu besichtigen: Die bisherige Kühlerfigur der FDP hat sich vor Millionenpublikum selbst abgeschraubt. Das war ein Abgang in Würde, wie er in der Politik nicht alle Tage passiert.
Der unübertroffene Wahlverlierer aber war sein ehemaliger Chef, Bundeskanzler Olaf Scholz. Die Kalorien für seinen Wahlkampf der Erregungen – der nur zu zehn Prozent aus Politik und zu 90 Prozent aus Zorn bestand – hätten er und seine Büchsenspanner sich sparen können. Man spricht in der Nahrungsmittelindustrie nicht ohne Grund von „Cheap Calories“, wenn man über jene Snacks spricht, deren Energie im Körper schnell verpufft, weil sie nicht in Muskeln, sondern in Fett übersetzt wird.
Scholz hatte Alice Weidel und Björn Höcke zu Dämonen aufgeblasen, sodass Millionen ehemaliger SPD-Wähler dahinter gar nicht mehr als solche erkennbar waren. Der barmherzige Vater aus dem Neuen Testament nahm den verlorenen Sohn wieder in seine Arme. Olaf Scholz und Lars Klingbeil klebten ihm das Etikett „Nazi“ auf die Stirn und wiesen ihm die Tür.
Migrationsforscher: „In einer durchschnittlichen Grundschulklasse werden heute zwölf Sprachen gesprochen“
Olaf Scholz hat sich und seine Rest-Regierung mit den Dynamitstangen des Zorns selbst in die Luft gesprengt. Eine Eskalationsdynamik wurde in Gang gesetzt, die Millionen ehemaliger Schröder- und Schmidt-Wähler nur als Angriff auf ihre demokratische Reputation verstehen konnten. Wer sich dieser Bewirtschaftung des Ressentiments entziehen wollte, musste zu CDU und CSU flüchten. Nur dort (und bei der FDP) konnte er sein Leiden an der gegenwärtigen Migrationspolitik artikulieren, ohne gleich in den Folterkeller der NS-Nähe abgeführt zu werden.
Aber in Wahrheit ging es bei dieser Wahl nicht um Habeck, Lindner, Scholz und Weidel, sondern um eine Verwandlung der bundesdeutschen Gesellschaft, die von der politischen Mitte zu spät registriert und nicht ausreichend adressiert wurde. Der Professor für Migrations- und Bildungssoziologie Aladin El-Mafaalani hat die Fakten eben erst im Gespräch mit Alev Doğan präzise an einem Beispiel beschrieben:
„In einer durchschnittlichen Grundschulklasse werden heute zwölf Sprachen gesprochen und die Kinder und ihre Eltern fühlen sich acht Religionsgemeinschaften zugehörig. Die Zahl derjenigen, die Deutsch als Zweitsprache lernen, ist genauso groß wie die Zahl derjenigen, die Deutsch als Erstsprache haben.“
Drei Stimmen zur Wahl: Alarm, Begeisterung und Bedenken
Aus diesem Befund lassen sich drei politische Schlussfolgerungen ableiten, die für das Verständnis des Wahlergebnisses von zentraler Bedeutung sind.
1. SOS! Wir sind zu weit gegangen. Die Nation verliert ihren Charakter. Wir sollten den Pfad in eine multiethnische Gesellschaft unverzüglich abbrechen.
2. Hurra! Wir sind unterwegs in eine neue multiethnische Gesellschaft und sollten diesen Weg mit einem neuen Bildungsideal begleiten.
3. Moment mal! Deutschland verändert sich und wir sollten diesen Prozess verlangsamen, um ihn überhaupt managen zu können. Multikulti: Ja, aber nicht so.
Unschwer lassen sich die drei Lager den politischen Parteien zuordnen. Die „SOS!“-Fraktion wählt AfD. Die „Hurra!“-Fraktion Grüne und Linkspartei und das „Moment mal!“-Lager findet sich traditionell bei SPD, FDP, CDU und CSU.
Wahlentwicklung 2021 bis 2025
Wenn wir die drei Lager in der Entwicklung der Bundestagswahlen 2021 und 2025 betrachten, sehen wir, was passiert ist.
1. „SOS!“ plus 100 Prozent oder 5,5 Millionen Wähler zusätzlich.
2. Das „Hurra!“-Lager ist ungefähr gleich stark geblieben. Der Verlust bei den Grünen korreliert mit dem Zugewinn bei der Linkspartei. Beide zusammen kommen auf 20,4 Prozent oder rund zehn Millionen Wähler.
3. Die „Moment Mal!“-Koalition, bestehend aus Union, SPD und FDP, bildet die alte Mitte der Bonner Republik. Insgesamt ist der kumulierte Anteil dieser drei Parteien von 61,3 Prozent im Jahr 2021 auf 49,3 Prozent im Jahr 2025 gesunken, was einem Verlust von etwa vier Millionen Wählern entspricht, siehe den Zuwachs im „SOS!“-Lager.
Die Nachricht des gestrigen Abends also lautet: Der Weltuntergang fällt aus. Deutschland bleibt – trotz der Wahlerfolge links und rechts des Weges – ein Land der politischen Mitte. Die traditionellen Parteien der Bonner Republik bilden noch immer die dominante politische Kraft in Deutschland, auch wenn sie gestern gezaust wurden.
Fazit: Die Mitte wurde bei dieser Bundestagswahl verkürzt, aber nicht zertrümmert. Jetzt muss Meinung zu Macht verdichtet werden. Das sollte hinzukriegen sein. Die Altparteien SPD, CDU und CSU sind zwar alt, aber nicht lebensmüde. Dieses Land hat, bei allen Erregungsschüben, noch ein Ohr für die Vernunft.