"Habe mich verrannt": Ricarda Lang gesteht Mega-Fehler der Grünen

„Die haben doch keine Ahnung, was bei uns abgeht.” Ob bei der Zeitungslektüre oder am Stammtisch, diesen Satz höre ich über Politik ziemlich häufig. Wir sprechen viel von maroden Brücken in unserem Land – aber übersehen dabei manchmal, dass die vermutlich sanierungsbedürftigste Brücke die zwischen den Bürgern und der Politik ist.

Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass ihr Alltag – die horrenden Preise an der Supermarktkasse, der Besuch bei der Schwiegermutter im Pflegeheim nach einem langen Arbeitstag – in den Parlamenten und Talkshows kaum eine Rolle spielt. Das trifft gerade auch meine Partei. 

Wir haben in den letzten Jahren viel Vertrauen verloren, weil wir als „zu weit weg” wahrgenommen wurden und es teilweise auch waren. Es ist deshalb richtig, wenn wir uns nun vornehmen, den Alltag der Menschen wieder stärker in den Fokus zu rücken. Bloß: Was heißt das eigentlich? 

Ricarda Lang: Alltagsnah sein - Schluss mit Floskeln

Zunächst einmal ist Alltagsnähe natürlich ein klassischer Fall von: „show, don’t tell”. Alltagsnäher werden wir nicht, indem wir viel darüber reden oder Kolumnen schreiben, sondern in unserem politischen Handeln und Sprechen beweisen, dass wir es sind. Dabei sind aus meiner Sicht ein paar Dinge entscheidend, über die es sich durchaus zu schreiben lohnt.

  • Erstens: Sagen, was ist. Fast alle Themen bieten konkrete Bezüge zum Alltag der Menschen. Warum also Zeit mit Floskeln verschwenden? Schaue ich etwa auf meinen Fachbereich, die Arbeitsmarktpolitik, dann geht es ganz konkret um die berufstätige Mutter, die sonntagabends eine SMS bekommt: Kita morgen geschlossen, Kind bitte zuhause betreuen. 

Es geht um die Frage, wer sich von seinem Lohn eigentlich noch die Miete leisten kann. Was es also braucht? Vereinbarkeit und Betreuungsplätze, bezahlbaren Wohnraum und gute Löhne. Stattdessen redet Friedrich Merz darüber, wie faul er die Menschen in Deutschland eigentlich findet, während Lars Klingbeil zwar beteuert, für die „hart arbeitenden Mitte” zu sein, aus dieser Worthülse aber wenig für sein Regierungshandeln abzuleiten scheint. 

Auch ich selbst habe mich in der Vergangenheit immer wieder verrannt und an der Sache vorbeigeredet. Deshalb: Gute Politik sind nicht nur nette Statements; gute Politik redet Klartext und löst Probleme.

Gute Politik gibt Antworten

  • Zweitens: Alltagsnähe ist kein Widerspruch dazu, Antworten zu geben, die so groß sind wie die Aufgabe. Gerade erleben wir eine Bundesregierung, die sich recht erfolgreich der Wirklichkeit verweigert. Sie tut so, als könne eigentlich alles bleiben, wie es ist. Die Welt gerät immer weiter aus den Fugen, aber vom Klima über die Rente bis zum Bildungssystem: einfach weiter so. 

Das kostet Vertrauen, denn die Menschen spüren, wenn wir ihnen nur die halbe Wahrheit sagen. Im Zweifel vertrauen sie sich sogar denjenigen an, die stattdessen die ganze Lüge erzählen. Wir alle suchen Orientierung. Wir alle spüren – vielleicht ja auch, ohne es immer konkret benennen zu können – dass die bisherigen Grundfesten unseres Wohlstands kräftig wackeln. 

Haben wir also wieder den Mut zu Visionen und großen politischen Ideen, die Orientierung geben! Wir sollten dabei nur nicht vergessen, diese immer wieder auf den Alltag der Menschen herunterzubrechen.

Mehr für die Vielen, wo es wirklich zählt 

  • Drittens: Alltagsnähe ist nicht unpolitisch und Pastell, sondern oft eine Frage der Verteilung. Sie sind selbst manchmal genervt, weil Sie als Kassenpatientin keinen Termin vor Oktober beim Facharzt erhalten, während Privatpatienten binnen zwei Wochen rankommen? Sie können sich die Wohnung in der Innenstadt nicht mehr leisten, die Nachmieter haben geerbt oder verdienen das Dreifache?

Wer sich an diese Themen aus Angst, jemandem auf die Füße zu treten, nicht herantraut, wird es weder schaffen, eine schlüssige politische Vision zu entwerfen, noch den Alltagssorgen der Menschen tatsächlich zu begegnen. „Mehr von allem” hat als Zukunftsversprechen ausgedient. 

Was aber funktionieren kann: mehr für die Vielen, wo es wirklich zählt – Gesundheit und Wohnen, bezahlbare Energie, Bildung und Mobilität. Gerade auch dann, wenn es dafür den Konflikt mit den wenigen Großen braucht.

Es braucht Konflikte

  • Viertens: Alltagsnähe – da geht es um Inhalte und Sprache, aber natürlich auch um die Art und Weise, wie wir ins Gespräch kommen. In Würzburg, wo Martin Heilig gerade zum ersten grünen Oberbürgermeister in Bayern gewählt wurde, hat meine Partei ihr Wahlprogramm nicht etwa im Vorstandszimmer oder am Reißbrett entworfen. 

Sie hat Bürgerforen veranstaltet und nachgefragt: Wo drückt euch der Schuh, welche Themen treiben euch um, in was für einer Stadt wollt ihr leben? Darauf aufbauend wurden Ideen für den Kommunalwahlkampf entwickelt, offenkundig mit Erfolg. Aus dieser Erfahrung können wir alle lernen.

Über die Kolumnistin

Die frühere Grünen-Co-Vorsitzende Ricarda Lang schreibt eine Kolumne auf FOCUS online. Seit Dezember 2024 legt sie ihre Sicht auf aktuelle politische Themen und Debatten dar. „Lang-fristig gedacht“ ist der Name der Kolumne, mit der sie den Blick auch konstruktiv nach vorne richten möchte.

Probleme angehen bevor sie gesehen werden 

  • Fünftens: Alltagsnähe bedeutet zugleich nicht, Umfragen blind hinterherzulaufen oder allen immer nur nach dem Mund zu reden. Es ist zentrale Aufgabe von Politik, Probleme anzugehen, bevor sie einer Mehrheit als solche bewusst werden. 

Über Jahrzehnte hinweg wäre es sehr unpopulär gewesen, aus dem billigen russischen Gas auszusteigen oder deutlich mehr in die Bundeswehr zu investieren. Während meine eigene Partei ersteres immer gefordert hat, wäre letzteres auch bei uns nicht allzu gut angekommen. Dennoch: Es wären unserem Land einiges an Unruhe und erhebliche Kosten erspart geblieben, hätte Angela Merkel beides trotzdem getan. Auch eine gute Zukunft ist Alltag, bloß einige Jahre später.

Damit all das funktioniert, braucht es, 

  • sechstens, die Bereitschaft auf allen Seiten, Meinungen wertzuschätzen oder zumindest zu ertragen, die einem so gar nicht in den Kram passen. Vorweg: Sehr oft wird der Vorwurf einer vermeintlichen „cancel culture” nur vorgeschoben. 

Sahra Wagenknecht etwa hat sich phasenweise mit der Behauptung, man dürfe gar nichts mehr sagen, in drei Talkshows pro Woche canceln lassen. 

Debattenräume sind enger geworden

Auf politischer Ebene sind es zudem oft diejenigen, die die Meinungsfreiheit im Wahlkampf am lautesten vor sich her tragen, die sie nach gewonnener Wahl – siehe Donald Trump in den USA – als Erste abschaffen wollen. (Und die Demonstrations- und Wissenschaftsfreiheit gleich mit.) Aber: Manche Debattenräume sind durchaus enger geworden, nur anders, als häufig behauptet. 

Immer noch darf jeder sagen, was er will, jedenfalls im gesetzlichen Rahmen. Und niemand sollte Meinungs- mit Widerspruchsfreiheit verwechseln: Wer seine Meinung sagt, muss mit Gegenmeinung rechnen. Das ist Demokratie. In der Frage aber, wem wir überhaupt noch zuhören und mit wem wir bereit sind, ins Gespräch zu gehen, hat es eine Verhärtung gegeben, die uns als Gesellschaft nicht gut tut. Alltagsnähe bedeutet deshalb auch: raus aus der Blase, online wie offline!

Wer glaubt, eine eigene und klare Position zu vertreten, hieße automatisch, anderen Meinungen unversöhnlich gegenüberstehen zu müssen, irrt gewaltig. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall: Wer weiß, wo er steht, kann viel einfacher auch mal einen Schritt auf sein Gegenüber zumachen; kann einer anderen Position nicht in Misstrauen oder Unsicherheit, sondern mit ehrlichem Interesse begegnen – im besten Fall sogar mit Freude an der Auseinandersetzung.

Wir alle können also unseren Teil zur Sanierung der Brücke zwischen Bürgern und Politik beitragen. Auch meine Partei, auch ich. Gemeinsam haben wir es in der Hand, den langen Jahren der Sprengmeister ein Ende zu setzen. Ich freue mich schon aufs erste Richtfest.