Ukraine nimmt das Herz von Putins Wirtschaft ins Visier – doch endet beim Öl die US-Freundschaft?
Die Ukraine attackiert Russlands Raffinerien – zum Unwillen der USA. Doch Experten sehen einen Denkfehler. Wie mächtig ist die Strategie wirklich?
Die Bilder lassen sich kaum verifizieren – aber sie haben zuletzt immer wieder Hochstimmung unter Unterstützerinnen und Unterstützern der Ukraine ausgelöst: Aufnahmen weit auflodernder Flammen über russischen Öl-Raffinerien, teils tief im Landesinneren gelegen, machen seit Tagen auf X, Telegram und YouTube die Runde. Die Ukraine hat offenbar seit Ende April zu einer neuen Serie von Drohnenschlägen auf das Herz der russischen Wirtschaft ausgeholt. Und die Welle läuft weiter.
Teils sind es spektakuläre Schläge: Das Drohnenmodell „Ninja” hat auch laut russischen Berichten sogar eine Raffinerie in Salawat in der Teilrepublik Baschkortostan erreicht. Rund 1500 Kilometer von der Frontlinie entfernt, eine enorme Distanz. Die Angriffe haben potenziell Sprengkraft – buchstäblich und im übertragenen Sinne.
Denn Russlands Armee braucht nicht nur große Mengen an Diesel und Benzin für ihren Ukraine-Krieg. Der Export von Öl und Öl-Produkten füllt auch die Kriegskasse. Und doch: Die Praxis sorgt für Streit. Die USA haben die Ukraine laut Financial Times über interne Kanäle vor Angriffen auf Raffinerien gewarnt. Grund könnte die Sorge über einen Ölpreisanstieg im Wahljahr sein. Was die Frage aufwirft: Endet die Freundschaft des Westens just bei Wladimir Putins wichtigster Einnahmequelle? Und würde ein Zusammenbruch des russischen Raffineriewesens den Preis überhaupt steigen lassen? Experten sind uneins. Eine Analyse.
- Frage 1: Wie massiv ist Welle von Drohnenangriffen auf Russlands Öl-Industrie?
- Frage 2: Warum greift die Ukraine Russlands Raffinerien an?
- Frage 3: Schadet die Drohnenwelle der Ukraine Russlands Treibstoff-Produktion?
- Frage 4: Warum warnen die USA vor den Raffinerie-Schlägen der Ukraine?
- Frage 5: Liegt Bidens Regierung falsch? Der Unterschied zwischen Rohöl und Öl-Produkten
- Fazit: Drohnenschläge auf Putins Raffinerien – Steigt der Preis?
Frage 1: Wie massiv ist Welle von Drohnenangriffen auf Russlands Öl-Industrie?
Nach einer mehrwöchigen Pause im April hat die Ukraine mit ihren Drohnen wieder Russlands Raffinerien ins Visier genommen. Nicht alle Berichte über Feuer oder Explosionen an den Einrichtungen lassen sich verifizieren. Russlands Behörden haben einige Fälle bestätigt, aber fast immer beschwichtigt. Die Dichte an Meldungen könnte aber einen Fingerzeig auf das Ausmaß der Angriffswelle geben. In Kiews Fokus stehen offenbar auch Öl-Lager – aber keine Öl-Förderstätten. Im Fall von Jurowka (9. Mai) dienten die Depots angeblich der Öl-Versorgung der russischen Krim-Truppen. Ein Überblick ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Datum | Ziel | Quelle |
---|---|---|
17. Mai | Rosneft-Raffinerie in Tuapse (Region Krasnodar) | Reuters, Behörden bestätigten Feuer |
15. Mai | Öl-Lager in Proletarsk (Region Rostow) | HRU*, keine offizielle Bestätigung |
11. und 12. Mai | Lukoil-Raffinerie Wolgograd | Reuters, Behörden bestätigten Feuer |
10. Mai | “First Plant”-Kleinraffinerie in der Region Kaluga | Moscow Times, Behörden bestätigten Feuer |
10. Mai | Öl-Lager in Rowenkyj (besetzte Region Luhansk) | Reuters, Besatzer bestätigten Schlag |
9. Mai | Gazprom-Raffinerie in Salawat (Teilrepublik Baschkortostan) | Telegram, Behörden bestätigten Rauchentwicklung |
9. Mai | Zwei Öl-Depots in Jurowka (Region Krasnodar) | Kyiv Independent, Behörden bestätigten Schlag |
1. Mai | Rosneft-Raffinerie in Rjasan (Region Rjasan) | Bloomberg, Behörden bestätigten Angriff |
1. Mai | JSC-Raffinerie Log (Region Woronesch) | HRU, keine offizielle Bestätigung |
29. April | Öl-Depot in Sewastopol (Krim) | AP, Behörden bestätigten Feuer |
27. April | Raffinerie Slawjansk-na-Kubani (Region Krasnodar) | Tass, Unternehmen bestätigte Feuer und Störung |
*Stand 16. Mai / HRU: Ukrainischer Militärgeheimdienst
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Frage 2: Warum greift die Ukraine Russlands Raffinerien an?
Ein Grund dürfte direkt die Fronten im Krieg betreffen: Treibstoff-Knappheit würde Russlands Logistik massiv beeinträchtigen – und die nahezu ausschließliche Quelle für Diesel und Co. waren lange Zeit die heimischen Raffinerien. Die komplexen Anlagen sind schnell ein paar Wochen außer Betrieb, wenn sie erstmal beschädigt sind. Aber das Kalkül reicht weiter. Die Öl-Einnahmen seien „das Herz der russischen Kriegswirtschaft“, lautet einem Bericht des Atlantic Council zufolge ein weiterer Argumentationsstrang Kiews. Diese These bestätigte auch Experte Felix Jaitner zuletzt im Gespräch mit IPPEN.MEDIA.
Der Wissenschaftler Eugene Rumer vom Carnegie Endowment sieht auch weiche Faktoren hinter den Schlägen: „Gelegentliche tiefe Schläge auf Ziele in Russland generieren öffentliche Aufmerksamkeit und stärken die Moral“, erklärte er in einem Bericht der Denkfabrik. Und schließlich dürfte noch eine Form von Genugtuung mitschwingen: Russland attackiert seit Langem gezielt die Energieinfrastruktur in der Ukraine – womöglich auch, um das Land „unbewohnbar” zu machen, wie der Kiewer Politikwissenschaftler Mykola Bielieskow unserer Redaktion sagte. Die Schläge auf die Raffinerien wirken wie eine Revanche. Ohne freilich etwa Strom- oder Wärmeversorgung von Russlands Bevölkerung direkt zu schädigen.
Frage 3: Schadet die Drohnenwelle der Ukraine Russlands Treibstoff-Produktion?
Der Energieexperte Jörg Schindler sieht vor allem offene Fragen: Klar scheine, dass einzelne Raffinerien getroffen worden seien. Über Auswirkungen auf Russlands Produktion lasse sich aber nur spekulieren: „Es läuft ein Informationskrieg, was wirklich stimmt, ist nicht nachzuvollziehen“, sagte der Experte der „Association for the Study of Peak Oil and Gas“ auf Anfrage von IPPEN.MEDIA. Im Ukraine-Krieg nutzten beiden Seiten die unklare Lage für Propaganda.
Tatsächlich ist die Datenlage wackelig. Es gibt Indizien, Berechnungen und Thesen. Der US-Sender NBC berichtete etwa über eine Analyse der Bank JPMorgan: Nach Daten von Anfang April seien bis dahin 18 Raffinerien getroffen worden – eine Tages-Produktionskapazität von 670.000 Barrel sei zu diesem Zeitpunkt außer Betrieb gesetzt gewesen. Ähnliche Zahlen nannte im April die Internationale Energieagentur (IEA). Am Mittwoch (15. Mai) korrigierte sie aber die durchschnittliche Ausfallmenge für das zweite Quartal nach unten, auf 300.000 Barrel pro Tag. Die Agentur Reuters berechnete, 14 Prozent von Russlands Kapazitäten seien Ende März durch die Schläge blockiert gewesen, Mitte April nach Reparaturen noch zehn Prozent.

Ein praktisches Indiz für die Auswirkungen: Reuters zufolge stoppte Russland am 1. März den Benzin-Export – zugleich stiegen bis Mitte März die Treibstoff-Importe aus Belarus massiv an. Noch im Januar seien sie bei null gelegen, wenig später startete die Ukraine ihre erste Angriffswelle. Durchaus pikant: Alexander Lukaschenkos Regime schien anonymen Quellen zufolge wenig begeistert; das Land würde offensichtlich lieber auf die lukrativen internationalen Märkte exportieren. All das bezieht aber wohl schon aus rein praktischen Gründen noch nicht – oder nicht vollständig – mögliche Effekte der jüngsten Schläge ein.
Frage 4: Warum warnen die USA vor den Raffinerie-Schlägen der Ukraine?
Wolodymyr Selenskyj bestätigte Ende März indirekt den Bericht der Financial Times über den Unmut der US-Regierung über die ersten Wellen an Schlägen gegen Russlands Öl-Industrie: „Die Reaktion der USA darauf war nicht positiv“, sagte er der Washington Post. Er betonte aber, dass die USA in dieser Frage kein Veto hätten. „Wir haben unsere Drohnen benutzt. Niemand kann uns sagen, dass wir das nicht tun dürfen.“
Joe Bidens Verteidigungsminister Lloyd Austin hat im April die Haltung der USA aber auch öffentlich kundgetan: Es drohe ein „Domino-Effekt“ auf den internationalen Öl-Märkten, erklärte er. Rückendeckung erhielt er von der Internationalen Energieagentur. Die internationalen Märkte seien „auf russische Exporte von Diesel, Rohbenzin und Kerosin angewiesen“, warnte die IEA. Geschlossene Raffinerien könnten einen „signifikanten Verlust“ bedeuten. In einfachen Worten: Die Preise für Öl-Produkte könnten steigen, die globale Wirtschaft in krisenhafte Situationen stürzen – und auch Joe Biden im nahenden Wahlkampf gegen Donald Trump in Erklärungsnöte bringen.
Energieexperte Schindler bestätigt: Russland dominiere zusammen mit den USA und Saudi-Arabien weiter den Weltmarkt für Öl. „Wenn einer davon schwächelt oder in einem dieser Länder die Produktion zurückgeht, dann hat das weltweite Konsequenzen.“ Das bedeute zugleich: „Die westlichen Sanktionen funktionieren mit Blick aufs Russlands Energieressourcen nicht.“ „Russland leidet nicht, das Gegenteil ist der Fall“, sagt der Experte. Ein Grund sind die Möglichkeiten zur Umgehung der Sanktionen – ein mittlerweile bekanntes Phänomen ist Russlands Tanker-Schattenflotte auf den Weltmeeren. Der Fluss an Rohöl aus Russland darf aus ökonomischer Sicht also nicht versiegen. Schon das ist ein durchaus bemerkenswerter Punkt.
Frage 5: Liegt Bidens Regierung falsch? Der Unterschied zwischen Rohöl und Öl-Produkten
Doch es mehreren sich auch Gegenstimmen – denn Rohöl ist nicht gleich Treibstoff. Unter dem sprechenden Titel „Warum die Ukraine weiter Russlands Öl-Raffinerien attackieren sollte“ warfen die drei Forschenden Michael Liebreich, Lauri Myllyvirta und Sam Winter-Levy Bidens Regierung zuletzt ein folgenschweres Missverständnis vor. Schläge auf Raffinerien verminderten Russlands Fähigkeit, Rohöl zu verarbeiten, argumentierten sie im Magazin Foreign Affairs. Auf den Export von Rohöl hätten erfolgreiche Angriffe keinen negativen Einfluss – im Gegenteil.
Putins Wirtschaft könne zwar bei Ausfall der russischen Raffinerien weniger Benzin oder Kerosin herstellen, brauche aber Einnahmen: „Russland wird gezwungen sein, mehr Rohöl zu exportieren, nicht weniger, das wird die Preise senken, statt sie zu erhöhen“, schreiben die drei Forschenden. Das gelte jedenfalls, solange nicht Öl-Quellen das Ziel seien – und die Ukraine habe sich zuletzt auf Raffinerien fokussiert. Experte Michael DiCianna vom Center For European Policy Analysis forderte ebenfalls internationale Unterstützung für die Strategie. Er sah wie US-Verteidigungsminister Austin einen möglichen „Domino-Effekt“ – aber für Russlands militärische Logistik.
Fazit: Drohnenschläge auf Putins Raffinerien – Steigt der Preis?
Klar ist: An einem Ort stiegen zuletzt die Diesel- und Benzin-Preise – in Russland. Ende April seien die Diesel-Preise dort um zehn Prozent binnen einer Woche gestiegen, Benzin sei seit Jahresbeginn um 20 Prozent teurer geworden, berichtete das Portal Politico unter Berufung auf offizielle Daten der russischen Regierung.
Anfang April – etwa zeitgleich mit dem Ende der ersten ukrainischen Drohnen-Angriffswelle – meldete Reuters auch einen Anstieg der Öl-Preise auf dem Weltmarkt. Der Analyst Jim Ritterbusch zog dort auch eine Linie von begrenzten russischen Produktionskapazitäten zur künftigen Preisberechnung. Dabei könnten aber eher allgemeine Ängste eine Rolle spielen. Russland und die Opec wollen die Öl-Förderung ohnehin kürzen. Die Benzin-Preise wiederum unterscheiden sich global teils drastisch, hängen aber natürlich mit dem Öl-Preis zusammen.
Bislang scheint die Bilanz zweigeteilt. Russlands Export von Öl-Produkten – also Diesel, Benzin und Co. – ist nach Daten des Preis-Informationsdienstes S&P Global Commodities im April auf einen Tiefststand seit Ende der Pandemie gesunken. Am Mittwoch meldete die IEA laut Bloomberg auch einen Rückgang beim Rohöl-Export – 6,4 Prozent weniger verglichen mit März, aber ungefähr auf dem Niveau von Ende 2023. Zugleich liege Russland aber immer noch über dem selbstgesteckten Rohöl-Förderziel. Insofern kann die Drohnen-Strategie der Ukraine noch kein echter Faktor für den Öl-Preis sein. Schmerzen bereiten kann sie aber womöglich. Russlands Einnahmen für beiden Produktarten sind laut IEA gesunken. Aber auf hohem Niveau: von 18,4 Milliarden US-Dollar im März auf 17,2 Milliarden Dollar im April.
Schindler hat indes noch eine Warnung für Wirtschaft und Regierungen in aller Welt, unabhängig von Russlands etwaigen Problemen: „Öl ist eine endliche Ressource. Der Förderhöhepunkt war im Jahr 2018. Ob das jemals wieder raufgeht, wissen wir nicht.“
Florian Naumann
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