„Schutzwirkung nicht gegeben“: Putins Truppen machen gezielt Jagd auf Lebensretter

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Russland nimmt wohl weiter das rote Kreuz ins Visier; und verübt Kriegsverbrechen. Sanitäter und freiwillige Helfer an der Front sind in Lebensgefahr.

Charkiw – „Platinum ten minutes“ und „golden hour“, erklärt Daniel Forstner, seien die beiden entscheidenden Größen in der Versorgung von Verletzungen in einer Situation wie dem Ukraine-Krieg. Die ersten zehn Minuten entschieden über Leben und Tod von Verwundeten und seien mehr wert als Gold, wie der Oberfeldarzt im Bundeswehr-Podcast Nachgefragt erläutert; und innerhalb der ersten Stunde müssten Verletzte auf dem Tisch des Chirurgen liegen, um eine Chance zu behalten. Ein „ausbalanciertes System“ nennt Bundeswehr-Mediziner Marco Seyfarth das Miteinander von Sanitätern und der kämpfenden Truppe in einer anderen Folge des Podcasts. Dieses System versucht Russlands Armee schon seit Beginn an auszuhebeln: Wladimir Putin lässt gezielt auf Sanitäter der Ukraine schießen, behaupten verschiedene Medien.

Es wäre ein klarer Verstoß gegen das Genfer Abkommen. Ein Kriegsverbrechen. Wladimir Putin habe „das rote Kreuz im Visier“ hat die Süddeutsche Zeitung getitelt. Perfide daran sei weniger der Kollateralschaden eines versehentlich getroffenen Sanitäters im Gefecht, sondern vielmehr der vorsätzliche und gezielte Beschuss von Fahrzeugen oder Feldlazaretten. Schließlich greife der Sanitäter hauptsächlich erst hinter der Front ein; an Evakuierungs-Punkten, an denen Verwundete zunächst stabilisiert und dann motorisiert weiter transportiert werden von der Front weg in Gesundheitszentren.

Eine Sanitäterin verbindet einen ukrainischen Soldaten nach einem Raketenangriff auf Tschassiw Jar
Hilfe unter Lebensgefahr: Russland feuert vermutlich vorsätzlich auf medizinisches Personal, um die Moral der kämpfenden Truppe der Ukraine zu schwächen. Ein klares Kriegsverbrechen (Symbolfoto) © IMAGO/Anna Opareniuk

Hinter den gezielten Schüssen steckt eine Strategie: „Wenn ich Truppenteile an die Front bringe, die nicht versorgbar sind, dann ist der Misserfolg vorprogrammiert“, sagt Marco Seyfarth. Der Oberstabsarzt vom Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr bestätigt, „dass die Schutzwirkung des roten Kreuzes definitiv nicht gegeben ist“; seiner Aussage nach dienen die Angriffe auf Sanitätspersonal durch Russland der Destabilisierung der kämpfenden ukrainischen Truppe. Seyfarth: „Der Gegner weiß sehr genau, welche Hochwertressourcen er mit seinen Angriffen trifft.“

Putins mögliche Maxime: „Wer auf Ärzte schießt, gewinnt den Krieg“

Der Mediziner hält den Sanitätsdienst für einen hohen Faktor für die Moral und die Motivation der Truppe. Wer sich in eine Gefahr begäbe, ohne zu wissen, dass jemand zum Retten käme, wäre eher als tollkühn zu bezeichnen anstatt als mutig, sagt der Mediziner. „Wer auf Ärzte schießt, gewinnt den Krieg“, hat Zeit Online vor sieben Jahren geschrieben und damit bereits die „abscheulichen Praktiken“ in den Kriegen in Syrien und im Jemen angeprangert. „,In den Neunzigern hatte ich noch den Eindruck, dass Kämpfer mich respektieren‘, erzählt der Kriegschirurg Marco Baldan vom Internationalen Roten Kreuz. „Natürlich hätte mich auch damals schon ein Querschläger oder eine Landmine umbringen können. Aber ich hatte den Eindruck, niemand würde mich als Arzt vorsätzlich angreifen.‘, zitiert ihn Zeit Online. Offenbar hat sich Russland dieser Praktiken erinnert.

„Wie schon im Syrien-Krieg wird der russischen Armee vorgeworfen, in der Ukraine gezielt Spitäler und Ambulanzen anzugreifen, um die Moral des Gegners zu schwächen“, schreibt auch die Neue Zürcher Zeitung und verweist auf eine Statistik der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Demnach sind zwischen dem ersten Tag der russischen Invasion am 24. Februar 2022 und dem 17. Mai diesen Jahres in der Ukraine 279 Attacken auf medizinische Transporte registriert sowie 167 Fälle von Angriffen auf medizinisches Personal. Dieses Personal sowie die Einrichtungen, in denen sie sich aufhalten sind durch das Humanitäre Völkerrecht (HVR) geschützt „Das HVR sucht einen Ausgleich zwischen zwei gegenläufigen Interessen: den militärischen Notwendigkeiten bei der Kampfführung und der Bewahrung des Prinzips der Menschlichkeit im bewaffneten Konflikt“, schreibt das Bundesministerium für Verteidigung dazu.

Sanitätspersonal ist „unter allen Umständen zu schonen“

Auf August 1864 datiert das erste Genfer Abkommen (GA) – als erster völkerrechtlicher Vertrag, der den Schutz von Verwundeten, die Neutralität des Sanitätspersonals und das Rote Kreuz als Schutzzeichen zum Gegenstand hat. Erweiterungen finden sich in Zusatzprotokollen (ZP).

Ortsfeste (zum Beispiel Krankenhäuser), mobile (zum Beispiel Feldlazarette) Sanitätseinrichtungen, Sanitätspersonal und Sanitätstransporte sind unter allen Umständen zu schonen (Art. 19, 24, 35 I GA I; Art. 12; 21 ZP I; Art. 9 I; 11 ZP II). Dies schließt auch Lazarettschiffe und Sanitätsflugzeuge samt deren Personal ein (Art. 22, 24, 25, 36, 38, 39 GA II; Art. 22-24 ZP I; Art. 11 ZP II). Sie sind deutlich mit dem jeweiligen Schutzzeichen, zum Beispiel Rotes Kreuz auf weißem Grund, zu kennzeichnen (Art. 38 GA I). Gefangen genommenes Sanitätspersonal des Gegners erhält nicht den Status von Kriegsgefangenen, sondern wird, sofern es nicht zur medizinischen Versorgung der anderen Kriegsgefangenen benötigt wird, so schnell als möglich freigelassen (Art. 28 I GA I; Art. 33 I GA III).

Quelle: Deutsches Rotes Kreuz

In den Kampfzonen helfen in der Erstversorgung auch Zivilisten – „Hospitaler“, wie sie eine Arte-Reportage bezeichnet. Sie erzählt die Geschichte eines 27-jährigen ukrainischen Kontrabass-Spielers mit dem Kampfnamen „Bass“; der bildet am Rande der ukrainischen Metropole Kiew neue Sanitäter aus – innerhalb einer Woche. „Kost und Logis sind frei, Honorar gibt es keines“. Das Bataillon besteht aus 500 Zivilisten mit mehr oder weniger medizinischer Erfahrung, die schnell in Notfall-Medizin und militärischem Verhalten geschult werden, und die zum Teil in Frontnähe wohnen, um so schnell wie möglich Verwundete aus heißen Kampfzonen bergen – oft unter Beschuss.

Realität in der Ukraine: Sanitäter fallen derzeit prozentual am häufigsten

„Ihr habt eineinhalb Minuten“, sagt „Bass“ in der Reportage, als seine Freiwilligen zur Übung einen am Boden liegenden Mimen evakuieren sollen. „Der Angriff kam von einer Aufklärungsdrohne, und ihr habt Glück, dass das keine Kampfdrohne war – ihr seid ein Ziel.“ Die Hospitaler seien an der Front die Ersten, die helfen, erklären die Autoren Sebastian Weis und Lara Maria Olbeter. Zu viert schleifen sie den vermeintlich getroffenen Körper aus der Gefahr und setzen dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel. Sie sind Anwälte, Graphikerinnen oder Programmierer, manchmal auch Sanitäter im zivilen Leben.

Der Krankenwagen, den die Reportage zeigt, ist getarnt, aber nicht gepanzert. „Gegen Kugeln oder andere Geschosse bietet er kaum mehr Schutz als eine Wand aus Pappe“, erzählen die Autoren. 50 ungepanzerte Krankentransportwagen hatte die Bundeswehr in den Ukraine-Krieg geschickt. Eine Panzerung fehlt auch den Sanitätern. Sie tragen ihre Splitterschutzwesten und Helme. Und sie sind genau so gefährdet wie die kämpfende Truppe: Bis zur Hälfte aller Verletzungen treffen Kopf oder Gesicht. Die Sanitäter müssen genauso wie die Soldaten in den Schützengräben um ihre Extremitäten fürchten, sie sind Druckwellen von Explosionen genau so ausgesetzt wie deren Hitze oder deren glühenden Splittern.

„Sanitäter haben prozentual die höchste Gefallenenzahl in der ukrainischen Armee derzeit. Sie haben die höchste Rate an Verlusten“, sagt Gustav Gressel gegenüber dem Sender n-tv. Der Osteuropa-Forscher des European Council on Foreign Relations (ECFR) bekräftigt klipp und klar die verbrecherische Absicht dahinter. Bereits 2017 hatte Zeit Online verwiesen auf Kampagnen des UN-Sicherheitsrates, des Roten Kreuzes oder von „Ärzte ohne Grenzen“ – Ziel war zu verhindern, „dass Gewalt gegen Ärzte, Schwestern und Sanitäter weltweit zur Regel werden könnte“, wie Zeit Online schreibt. Offenbar vergebens, wie Gressel zu bestätigen scheint.

„Wenn auf dem Schlachtfeld Trupps auftauchen, die Verwundete bergen, wenn der Verdacht besteht, dass da qualifizierte Sanitäter sind, wird sofort das Feuer auf sie konzentriert. Die Russen jagen sie ganz gezielt, um die Moral auf der ukrainischen Seite zu untergraben.“

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