Europa schmiedet Atom-Bündnis – ohne BDI: Droht Deutschland Isolation?
13 europäische Arbeitgeberverbände folgen dem Beispiel zahlreicher EU-Staaten und gründen eine eigene Atom-Allianz. Der BDI bleibt dem Treffen fern – wird es um Deutschland energiepolitisch einsam?
Paris – Die Atomenergie-Branche in Frankreich hat seit den 1970er Jahren einen beispiellosen Aufstieg erlebt. Rund 70 Prozent der Energieversorgung stammen heute aus den insgesamt 56 Reaktoren an 18 Standorten – nur die USA verfügen über einen größeren Atompark. Der gesellschaftliche Konsens: Die Atomkraft sorgt für günstige Energie, schafft Arbeitsplätze und verbessert dank ihrer CO₂-armen Bilanz die Umweltbilanz des Landes. Präsident Emmanuel Macron betonte 2021 gar: „Wir haben eine historische Chance, das ist die Atomkraft“. Diese Begeisterung in Politik und Wirtschaft zeigt sich nun erneut in einer neu gegründeten Atom-Allianz. Unter der Federführung der größten französischen Arbeitgebervereinigung, dem Mouvement des Entreprises de France (Medef), versammelten sich Verbände aus 19 europäischen Ländern zu einem Strategietreffen in Paris.
Europäische Arbeitgeberverbände schließen Allianz zur Atomkraft – und fordern von EU Unterstützung
Ihr Ziel: Ein Pakt europäischer Staaten zur Nutzung und Ausweitung von Atomkraft. Die konkreten Forderungen hielten die Verbände in einem Vier-Punkte-Plan fest.
- Schaffung eines klaren und förderlichen institutionellen Rahmens, Beseitigung von Hindernissen und vollständige Anwendung der Technologieneutralität. Dabei fordert die Initiative von der EU-Kommission, dass jeder Mitgliedstaat seinen Energiemix frei bestimmen kann und dass alle erneuerbaren und kohlenstoffarmen Energiequellen gleichberechtigt behandelt werden. Diese Maßnahme sei für eine effiziente europäische Dekarbonisierung unerlässlich.
- Uneingeschränkten Zugang zu privaten und öffentlichen Finanzmitteln sowie Finanzierungs- und Garantieprogrammen.
- Beschleunigung der Industrialisierung des Nuklearsektors durch verstärkte internationale Zusammenarbeit in den Bereichen Innovation und Versorgungssicherheit entlang der Brennstoffversorgungskette. Das Ziel: die Schaffung eines gemeinsamen nuklearen Ökosystems.
- Eine Arbeitsmarktoffensive im Hinblick auf Aus- und Weiterbildung der nächsten Generation von Arbeitnehmern im Feld der Kernenergie.

Konkret schlossen sich Arbeitgeberverbände aus den Ländern Schweden, Finnland, Dänemark, Italien, Belgien, Großbritannien, Polen, Ungarn, Kroatien, Rumänien, Bulgarien, der Slowakei und der Tschechischen Republik dem neuen Bündnis an. Vertreter aus Irland, Spanien, den Niederlanden, Portugal und Griechenland waren hingegen nur als Beobachter vor Ort.
Deutscher BDI verzichtet auf Teilnahme – und erntet Kritik: Medef sieht Beleg für deutsche Ablehnung
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) verzichtete auf eine Teilnahme – trotz einer Einladung durch den Medef. Offiziell hieß es aus Kreisen der Initiative, die deutsche Zurückhaltung habe mit der anstehenden Bundestagswahl zu tun. Und dennoch äußert der Medef Kritik an der Haltung der Deutschen – der Vorwurf: Deutschland verfolge seit dem Automausstieg 2012 einen Sonderweg in Europa und setze sich auf EU-Ebene massiv dafür ein, dass Atomkraft nicht als nachhaltige oder förderfähige Energiequelle eingestuft werde. Zuletzt erkennbar bei der EU-Taxonomie, als Deutschland argumentierte, dass Atomkraft wegen ungelöster Endlagerfragen und hohen Risiken nicht als nachhaltig gelten dürfe.
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Am Ende setzte sich Frankreich auch dank Unterstützung aus osteuropäischen Staaten durch – doch die Uneinigkeit blieb auch bei der EU-Richtlinie zu erneuerbaren Energien bestehen. Hier wehrte sich Deutschland gegen Frankreichs Vorschlag, Atomkraft als Beitrag zur Dekarbonisierung einzustufen – etwa durch die Anerkennung von nuklear erzeugtem Wasserstoff. Berlin wollte nur Wasserstoff aus Wind- und Solarstrom als „grün“ labeln.
Deutschland geht Sonderweg mit Erneuerbaren Energien – EU-Staaten verhelfen Atomkraft zum Comeback
Auch die Unterstützung von Investitionen in bestehende oder neue Atomkraftwerke im Zuge der EU-Strommarktreform durch gezielte Förderungen oder andere Marktinstrumente lehnte Deutschland ab. Interessant ist zum Vergleich die Rolle von Dänemark. Das skandinavische Land hat noch nie kommerzielle Atomkraftwerke betrieben, wenngleich es einige stillgelegte Forschungsreaktoren besitzt. Seit jeher gelten die Dänen als Verfechter Erneuerbarer Energien und lehnten Kernenergie eigentlich kategorisch ab. Und dennoch schlossen sich die Vertreter des größten dänischen Arbeitgeberverbandes, Dansk Industri (DI), dem Bündnis an.
Darüber hinaus erlebt die Kernenergie auf dem europäischen Kontinent in vielen Staaten ohnehin ein Comeback – wohl auch als Reaktion auf die unsichere Energieversorgung in Folge des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine:
- Italien: Nach dem Ausstieg aus der Kernenergie 1987 kündigte die Regierung von Premierministerin Giorgia Meloni unlängst an, in den nächsten zehn Jahren kleine modulare Reaktoren (SMR) zu bauen.
- Polen: In Deutschlands Nachbarland plant die Regierung bis 2040 den Neubau von mindestens zehn neuen Kernkraftwerken. Damit erhofft sich Polen, die Energieversorgung zu diversifizieren und die CO₂-Emissionen zu reduzieren.
- Niederlande: Die 2021 neu gewählte Regierungskoalition um Regierungschef Rutte revidierten die Ausstiegspläne und setzten einen Plan für den Neubau weiterer Anlagen auf. Auch hier waren die Klimaziele und der steigende Energiebedarf ausschlaggebend.
- Belgien: Die belgische Regierung hob den geplanten Atomausstieg auf und verlängerte die Laufzeit bestehender Reaktoren. Auch der Bau neuer Atomkraftwerke ist geplant.
Arbeitgeberverbände folgen „Nuklear-Allianz“ von elf EU-Staaten – Macron wirbt für stabilen Atomstrom
Diese Bewegung zahlreicher europäischer Staaten gilt dem Medef als Beleg dafür, dass in der Atomkraft die energiepolitische Zukunft Europas liegt. Zumal bereits im Februar 2023 elf EU-Mitgliedsstaaten um Frankreich – darunter auch Polen und die Niederlande – eine „Nuklear-Allianz“ gründeten, um die Zusammenarbeit im Bereich der Kernenergie zu stärken und sie als integralen Bestandteil der europäischen Energiepolitik zu fördern.
Auch die Ankündigung von Investoren wie Microsoft und Google, infolge der stabilen und kohlenstoffarmen Atomenergie Milliarden in französische Rechenzentren zu investieren, bestärkt Frankreichs Kurs. Diesen beschwörte zuletzt auch einmal mehr Macron. Als Antwort auf Donald Trumps Pläne, die Öl- und Gasproduktion auszuweiten – „We will drill, baby, drill“ –, konterte Macron trocken mit Blick auf die niedrigen Strompreise in Frankreich: „It’s just plug, baby, plug!“