Energiewende bei vielen unmöglich: „80-Jähriger mit kleiner Rente kann sich Haussanierung nicht leisten“

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Damit Deutschland klimaneutral wird, muss auch der deutsche Haushalt abgeholt werden. Nicht so einfach, meint SPD-Klimaexperte Losse-Müller.

Berlin – Bis 2045 soll Deutschland klimaneutral sein, die EU will die Klimaneutralität bis 2050 erreichen. Um dieses Ziel umzusetzen, müssen auch Gebäude mit besonders schlechter Energieeffizienz saniert werden. Der in der EU hitzig diskutierte individuelle Sanierungszwang für private Immobilien soll indes nicht umgesetzt werden, sondern hängt nun an den einzelnen Ländern. Deutschland hat beispielsweise bereits verschärfte Neubaustandards umgesetzt, an denen auch Förderungen hängen.

Die Klimaneutralität ist eine Mammutaufgabe: Bis 2030 müssten die Treibhausgase im Gebäudesektor um 68 Prozent im Vergleich zu 1990 sinken. Die energetische Sanierung von Häusern in Deutschland ist daher notwendig. Umso überraschender, dass letztes Jahr nur 0,7 Prozent aller Wohnhäuser in Deutschland an der Fassade, dem Dach oder den Fenstern saniert wurden – zu diesem Ergebnis kommt laut Spiegel eine Studie des Marktforschungsunterenhmens B+L. Die Quote liege auch unter dem Vorjahreswert aus 2022 von 0,88 Prozent. Dabei habe das Institut der deutschen Wirtschaft die nötige jährliche Sanierungsquote auf etwa zwei Prozent beziffert, nach der es rechnerisch trotzdem 50 Jahre dauern würde, bis alle Häuser in Deutschland erneuert wären.

Interessieren sich junge Menschen für den Kauf von Wohneigentum, könnten sie dabei schnell in die Schranken gewiesen werden. Doch nicht nur trugen steigende Immobilienpreise und verschärfte weltweite Krisen zur aktuellen Lage bei,
Wohnsiedlung im Stadtteil Gronsdorf in Haar bei München © IMAGO/Frank Hoermann/SVEN SIMON

Energiewende ist nicht günstig: Über 55.000 Euro für 100 Quadratmeter

Überhaupt seien im Gebäudesektor in Deutschland in den vergangenen vier Jahren mehr Treibhausgase ausgestoßen worden, als es im Klimaschutzgesetz vorsehen sei. Dies betreffe vor allem ältere Häuser mit den niedrigsten Energieeffizienzklassen G und H. Um die Energieeffizienz zu verbessern, müssten Öl- und Gasheizungen durch Wärmepumpen ersetzt werden und Häuser energieeffizienter gedacht werden.

Doch dafür müssten Eigentümer überhaupt erst in der Lage sein, in eine Sanierung zu investieren. So gehört etwa eine Vielzahl jener 15 Millionen Wohngebäude in Deutschland, die saniert werden müssten, Senioren mit geringem Einkommen. 2021 schätzte der Bundesverband der Verbraucherzentralen laut Focus die Sanierungskosten für die Energieeffizienzklasse A auf 471 bis 554 Euro pro Quadratmeter – also kämen für 100 Quadratmeter Kosten bis zu 55.400 Euro auf die Hauseigentümer zu.

Staat in Bringschuld: Viele Menschen können sich klimaneutrales Leben nicht leisten

„Ein 80-Jähriger mit kleiner Rente kann sich eine Haussanierung nicht leisten“, so SPD-Klimaexperte Thomas Losse-Müller zum Spiegel. Er zitiert eine Studie von Sozial-Klimarat: Zwei Drittel der deutschen Haushalte können sich die Klimaumrüstung gar nicht leisten – und fordert einen Strategiewechsel.

Losse-Müller kritisiert, dass im Klimaschutz zu viel Verantwortung auf den Einzelnen abgewälzt werde. Vielmehr sollte dieser als Teil der Daseinsfürsorge verstanden werden. „Er ist eine gemeinschaftliche und im Kern staatliche Aufgabe. Genauso wie der Staat für Bildung oder ein funktionierendes Gesundheitswesen verantwortlich ist, muss er sich auch darum kümmern, dass alle Menschen klimaneutral leben können“.

Erst ein Einkommen ab 2.500 Euro macht klimaneutrales Leben möglich

„Nur ungefähr ein Drittel aller Haushalte wird es unter den aktuellen Bedingungen schaffen, klimaneutral zu werden“, so Losse-Müller. In das verbleibende Drittel, das erfolgreich klimaneutral leben kann, fallen Haushalte mit einem Einkommen oberhalb von 2.500 Euro, die bereits jetzt in Häusern mit guten Energiestandards wohnen. „Oder Haushalte in Großstädten, die an Fernwärme angebunden sind und auf guten ÖPNV zurückgreifen können. Die verdienen vielleicht weniger, profitieren aber von der Infrastruktur vor Ort“.

Könnten über breite Förderangebote mehr Menschen erreicht werden? Ja, meint Losse-Müller. Und zwar vor allem die Babyboomer-Generation, mit Häusern aus den 70er-Jahren und schlechten Energiestandards. Diese hätten zwar wenig Geld zur Verfügung für eine Sanierung und wären auch nicht kreditwürdig, doch könnte man sie über Förderungen und mithilfe staatlicher Bürgschaften zur Umrüstung überzeugen. Das trifft aber nicht auf das letzte Drittel zu: „Es gibt viele Hausbesitzer, die so geringe Einkommen und so alte Häuser haben, dass sie mit keinem Förderprogramm der Welt ihr Haus noch sanieren können“. Dazu zähle auch die Aufbaugeneration – insgesamt 15 Prozent aller deutschen Haushalte.

Personen mit kleinen Renten kann sich Klimaneutralität nicht leisten

Über eine Million Menschen bezieht in Deutschland eine Rente unter 1200 Euro, ergab eine parlamentarische Anfrage von Sahra Wagenknecht. Die Durchschnittsrente nach mindestens 45 Versicherungsjahren liegt bundesweit aktuell bei 1604 Euro. Im Westen sind es 1663 Euro, im Osten 1471 Euro. Älteren Menschen in alten Häusern und mit kleiner Rente, könne man eine Aufrüstung nicht zumuten, so Losse-Müller. Er sieht daher den Staat in der Bringschuld: Fernwärme müsse ausgebaut werden und der Nahverkehr gestärkt werden. Davon könnten Aufbaugeneration, Babyboomer und Wohlhabende zusammen profitieren.

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