Wie schlecht geht es der deutschen Industrie wirklich? - Ökonom wird deutlich: „Wir schauen in den Abgrund, sind aber noch nicht verloren"

Herr Gornig, Volkswagen will laut dessen Betriebsrat mehrere Werke schließen und Stellen einsparen. Wie schlecht geht es der deutschen Wirtschaft wirklich, dass solche Maßnahmen nötig sind?
So etwas wie „die deutsche Industrie“ gibt es nicht. Es gibt Verbindungen und Zusammenhänge, aber eben auch Abstufungen, wie ernst die Lage in den jeweiligen Branchen ist. Man sollte also nicht VW als Gradmesser für die deutsche Industrie nehmen. Aber VW ist eines der Aushängeschilder, deshalb spielt deren Lage zumindest für die wahrgenommene Situation eine wichtige Rolle.

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Sie sprechen von einer wahrgenommenen Situation. Wie ist Ihrer Meinung nach dann die tatsächliche Lage?
Wir haben seit geraumer Zeit Stillstand. In der öffentlichen Debatte könnte man den Eindruck gewinnen, wir hätten die eine Hälfte der Industrie schon verloren und die andere stünde auf der Kippe. Das ist sicherlich nicht so. Wenn man sich die wichtigsten Zahlen anschaut, sind die im Durchschnitt der Industrie nicht im Wachstumsbereich – aber auch nicht desaströs.

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Das Problem ist hausgemacht, aber auch das gesamte System hat ein Stück weit versagt.

Aber VW nicht der einzige Großkonzern in Schieflage, Mercedes-Benz geht es ähnlich schlecht, viele andere Betriebe sprechen von einem Krisenmodus.
Ich sage auch nicht, dass alles gut ist, nur ist die aktuelle Lage eben noch nicht desaströs. Dennoch stehen wir gerade an einem Scheideweg. Wir sind noch nicht verloren, schauen aber schon in den Abgrund.

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Warum spitzt sich die Situation gerade jetzt so zu?
Gerade jetzt stimmt nicht ganz. Die Vorstellung, dass die deutsche Industrie in den letzten 20 Jahren von Konstanz geprägt war, ist falsch. Es gab einen großen Strukturwandel, viele Unternehmen sind dabei auf der Strecke geblieben. Andere sind dafür stark gewachsen. Das wird auch in dieser Krise so sein. Aber die entscheidende Frage ist, ob wir das durch neue Wachstumsmärkte werden kompensieren können.

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770.000

Und können wir das, beispielsweise in der Automobilindustrie?
Da ist seit Langem klar, dass es durch Verbrenner kein Wachstum mehr geben wird. Und leider ist es so, dass man das neue Wachstum durch die E-Mobilität bislang noch nicht hat generieren können.

An der Autobranche hängen in Deutschland rund 770.000 Arbeitsplätze. Wie konnte es passieren, dass eine so entscheidende Industrie dermaßen ins Hintertreffen gerät?
Das ist zum Teil hausgemacht, aber auch das gesamte System hat ein Stück weit versagt.

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Wie meinen Sie das?
Die Automobilkonzerne haben dermaßen gut verdient, dass es für einen Vorstand sehr schwierig gewesen wäre, den Aktionären zu verkaufen, dass man jetzt unbequeme Änderungen vornehmen muss, um fit für die Zukunft zu sein. Und die Politik hat zwar dafür gesorgt, dass das alte Wachstumsmodell der Autobauer zu Ende geht. Aber nicht dafür, dass es Rahmenbedingungen gibt, in denen neue Wachstumsfelder entstehen können.

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Wo gab es dieses Versäumnis konkret?
Eine der entscheidenden Fragen ist die Ladeinfrastruktur. Die braucht es zwingend, wenn man flächendeckende E-Mobilität will. Aber ganz ehrlich: Das kann die Industrie aber nicht auch noch selbst stemmen. Wie man auf die Idee kommen kann, mehr E-Autos auf den Straßen haben zu wollen, ohne genügend Ladestellen zu haben, ist schon beeindruckend.

Wenn das so klar ist, wieso wurde es dann trotzdem so gemacht?
Strategische Industriepolitik hat in Deutschland einen schweren Stand. Damit ist ausdrücklich nicht gemeint, dass man mit viel Geld Unternehmen unterstützt, die in Not geraten sind. Sondern die Frage, wie man strategisch Märkte aufbaut. China macht im Grunde genau das: Man baut Märkte auf und versucht, Technologien marktreif zu bekommen. Das hätte man in Europa auch früher machen können.

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Woran ist diese Industriepolitik gescheitert?
Daran, dass es gut lief. Wenn sehr viel Geld verdient wird, ist es schwierig, wegweisende Entscheidungen zu treffen. Ähnliches gilt für die Politik: Man hat den Handlungsbedarf nicht gesehen und sich lieber auf andere Sachen konzentriert. Wenn man die Rente erhöhen kann, warum sollte man dann etwas Unpopuläres durchboxen wie strategische Industriepolitik?

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Das Problem ist, dass andere Länder das getan haben.
So viele sind das nicht. China, aber die haben ein anderes System. Die USA haben unter Biden verstanden, dass sie im großen Stil heranmüssen. Wir hingegen diskutieren darüber, ob man den Diesel doch noch retten kann, indem man bestimmte Kraftstoffe entwickelt. Wir hinterfragen unsere eigene Strategie also permanent. Und verzichten damit darauf, Skaleneffekte zu erzielen. Denn dafür müsste man wirklich breit in eine Industrie investieren.

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Wenn wir nicht investieren, wird es zum Niedergang der deutschen Industrie kommen.

Deutschland hat also ein Investitionsproblem?
Das ist der Kern unserer aktuellen Lage. Es gibt ein technologisches Patt: Für Unternehmen lohnt es sich nicht, in alte Technologien zu investieren, weil sie wissen, dass die nicht mehr lange halten. Gleichzeitig gibt es neue Technologien, von denen aber niemand genau weiß, wie hoch die Risiken sind.

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Was meinen Sie damit?
Wenn ich eine tolle E-Auto-Batterie entwickele, hängt mein Erfolg davon ab, ob jemand anderes eine tragfähige Ladeinfrastruktur aufbaut. Das ist vollkommen untragbar, denn als Unternehmer kann ich ja nicht blind darauf vertrauen, dass jemand anderes auch erfolgreich ist. War daraus folgt ist, dass ich am Ende gar nicht investiere, weder in die Alte noch in die Neue. Dieses Patt haben wir gerade.

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Welche Rolle müsste hier die Politik spielen?
Sie ist der einzige Akteur, der in dieser Situation solche systemischen Risiken übernehmen kann, es muss also investiert werden. Stattdessen wird aber sehr viel Geld für Preissubventionen ausgegeben, etwa für fossile Energie. Das ist doch wirklich nicht vorwärts gedacht, das hilft einem für die Zukunft gar nichts.

Die Bundesregierung streitet sich derweil um die richtigen Maßnahmen, aus jeder der drei Koalitionsparteien kommen eigene Vorschläge. Wie bewerten Sie diese?
Es ist vollkommen klar, dass wir investieren müssen. Die Frage ist nur, wie wir das tun: Ich bin skeptisch gegenüber neuen Schulden, wenn das Geld sozusagen für Geschenke an die Bevölkerung verwendet wird. Vielmehr müssen wir ganz gezielt in Zukunftstechnologien investieren. Wenn das geschieht, halte ich auch neue Schulden über die normalen konjunkturellen Defizitspielräume hinaus für gerechtfertigt.

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Der Kanzler hat gerade zum Industriegipfel nach Berlin geladen. Was muss nun passieren, um den negativen Trend zu beenden?
Für Politik wie Industrie gilt: Wir müssen die technologische Führerschaft zurückgewinnen. Denn Deutschland wird kein Billigproduzent mehr werden und muss deshalb das Gefühl vermitteln, dass der hohe Preis angesichts der Technik gerechtfertigt ist. Das ist etwa in der E-Mobilität nicht der Fall, da liefern andere gefühlt bessere Autos für weniger Geld. Und will man das ändern, geht nur über Investitionen. Die müssen jetzt alles nehmen, was sie haben, und in die Forschung stecken. Vielleicht hilft die aktuelle Krise da sogar.

Sie sehen die Krise also als Chance?
Eindeutig. Wenn wir nichts tun, nicht investieren, nicht die technologische Führerschaft zurückgewinnen, dann wird es den Niedergang der deutschen Industrie geben. Aber die Gefahr gab es schon oft und letztlich ging dadurch ein Ruck durch die Industrie, die dann mit Innovation die Grundlage für neue Spitzentechnologie gelegt hat. Wenn das passiert, kann Deutschland wieder Spitze werden.

Von Dennis Pohl