VW ist nicht allein - Deutsche Top-Konzerne schicken zehntausende Kollegen nach Hause

Volkswagen ist nur die Spitze des Eisbergs: Das größte deutsche Unternehmen streicht Stellen und will mindestens ein Werk schließen, weil es weniger Autos verkauft als erwartet. Doch der Autobauer ist nur ein Symbol für das, was gerade passiert: Die einstigen Schlachtschiffe der Industrie bauen reihenweise Stellen ab.

Bei Volkswagen ist die Situation so: Die operative Marge der Marke VW sinkt kontinuierlich. Von unzureichenden vier Prozent im vergangenen Jahr auf derzeit indiskutable 2,3 Prozent. Das ist die schlechteste Umsatzrendite im gesamten Konzern, wie Unternehmenschef Oliver Blume feststellen musste, der insgesamt acht bis zehn Prozent erwirtschaften will. Markenchef Thomas Schäfer konstatierte, bei VW brenne der Dachstuhl. Das war vor knapp einem Jahr.

Bei VW sollen Entlassungen nicht mehr zu vermeiden sein

Jetzt stehen Werksschließungen im Raum, Beschäftigungsgarantien werden ausgehebelt, Entlassungen sollen nicht mehr zu vermeiden sein. Das stößt zwar bei vielen Beobachtern, vor allem natürlich in Gewerkschaftskreisen, auf wenig Verständnis - schließlich hat die Marke VW im vergangenen Jahr 3,5 Milliarden Euro erlöst. Das klingt nicht nach Krise. Aber wenn man bedenkt, dass der Konzern in den nächsten Jahren 180 Milliarden Euro für Modernisierung und Digitalisierung, für die Aufholjagd bei der Elektrifizierung und für autonomes Fahren braucht, dann ist dieser Erlös zu mager.

Zumal VW unter schwerfälligen Strukturen und zementierten Prozessen leidet, die den Autobauer bremsen. Der ewige Rivale Toyota baut mit weniger Mitarbeitern deutlich mehr Autos. Auch Audi und seine Digitaltochter Cariad, die bei der Software für Assistenzsysteme und autonomes Fahren alle Hoffnungen enttäuscht, lieferten zuletzt unerfreuliche Ergebnisse. Blume sieht deshalb keine andere Möglichkeit, als zu straffen und zu reorganisieren. Die schlechten Nachrichten sind da, die Kämpfe fangen erst an.

Die Zeichen stehen auf Sturm

In der gesamten Automobilindustrie stehen die Zeichen seit geraumer Zeit auf Sturm. Beim Automobilzulieferer ZF Friedrichshafen und anderen namhaften großen Mittelständlern fordern die Umwälzungen auf vielen Ebenen ihren Tribut. Zu den Gründen, die von den betroffenen Unternehmen meist nur hinter vorgehaltener Hand genannt werden, gehören EU-Regulierungen (“Verbrenner-Aus”), bundesdeutsche Bürokratie und völlig verfehlte Verwaltungsvorschriften ebenso wie steigende Lohnzusatzkosten und hohe Steuern. Unter dem Strich bauen viele Unternehmen gar keine Kapazitäten ab - sie werden nur woanders aufgebaut.

Der ehemalige Präsident des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, nicht erst seit seiner Pensionierung ein Freund klarer Worte, bringt es auf den Punkt: „Deutschland macht seine eigene Industrie kaputt. Andere Länder werden das begrüßen, aber nicht kopieren”, so der Ökonom kürzlich in einem NZZ-Interview: „Der Dirigismus, den die EU mit dem Verbrennerverbot praktiziert, passt nicht zur Marktwirtschaft. Und der Umweltnutzen ist nicht vorhanden.” Die „Taxonomie” der EU, die aus der Brüsseler Verwaltung heraus festlegt, was als nachhaltig zu gelten hat und was nicht, hält der Realität nicht stand. Sinn sieht darin die Hauptursache für die derzeitige Deindustrialisierung, insbesondere für die Probleme der Autohersteller. „Elektroautos sind nicht CO2-frei, wie die EU behauptet. Jedes Auto trägt mit der Batterie einen schweren CO2-Rucksack mit sich herum, und der Auspuff ist nicht am Auto, sondern meist ein paar Kilometer weiter im Kohlekraftwerk. Das Verbrennerverbot hat Deutschland zusammen mit anderen energiepolitischen Sünden in die Deindustrialisierung getrieben”.

Viele ZF-Produkte lassen sich im Ausland günstiger produzieren

Ganz so weit ist es noch nicht, aber die Zahl von 14.000 Stellen, die ZF Friedrichshafen bis Ende 2028 nicht mehr braucht, ist die derzeit höchste Abbauzahl. Zwar verspricht der Vorstand, dies möglichst sozialverträglich zu gestalten, doch an den harten Fakten ändert das nichts. Viele Produkte des Antriebsspezialisten und Stoßdämpferherstellers vom Bodensee lassen sich im Ausland günstiger produzieren - auch aus den oben genannten Gründen, die nicht im Verantwortungsbereich der Hersteller liegen.

Ähnlich wie bei VW hat auch der ZF-Vorstand längst erkannt, dass die derzeitige Zahl von rund 54.000 Arbeitsplätzen in Deutschland nicht zu halten ist. Die etwas verklausulierten Andeutungen führten damals aber nicht zu den großen Protestaktionen, die sich jetzt abzeichnen. Die Gewerkschaften machen sich für den Erhalt der deutschen Standorte stark. Außerdem ist es bis 2028 noch eine Weile hin. Mag sein, dass bis dahin noch so manches EU-Vorhaben in der Versenkung verschwindet und sich auch in Deutschland der Wind langsam dreht.

Bei Bosch sollen 3000 Arbeitsplätze wegfallen

Doch darauf kann und will man bei Bosch nicht warten. Der weltgrößte Autozulieferer muss sich zur Hälfte neu erfinden, wenn der Verbrennungsmotor tatsächlich ausläuft. Ähnlich wie der Getriebespezialist ZF hat der Tüftlerkonzern aus Stuttgart vieles im Angebot, was der Steuerung konventioneller Antriebe dient. Teile und Verfahren, die ein Elektroauto nicht braucht. Und die Elektrosparte allein kann nicht schnell genug wachsen, um den Rückgang der anderen Technologien auszugleichen.

Weltweit stehen bei Bosch etwas mehr als 3000 Arbeitsplätze auf dem Spiel. Das klingt angesichts von rund 130.000 Beschäftigten in Deutschland nicht viel, etwa im Vergleich zu ZF Friedrichshafen. Doch den Sparmaßnahmen in einigen Regionen der Welt und im Inland stehen massive Investitionen etwa in Asien gegenüber - man will dort sein, wo die Kunden sind. Und dort werden auch neue Arbeitsplätze geschaffen. Mit Kritik an Politik und Verwaltung in Deutschland hält man sich bei Bosch ebenso zurück wie bei ZF und vielen anderen Unternehmen. Aber dass die hiesigen Verhältnisse bei der Auslandsstrategie eine Rolle spielen, dürfte kaum zu bezweifeln sein.

BASF schließt in Ludwigshafen ganze Fabrikationsanlagen

Etwas deutlicher, aber immer sehr zurückhaltend äußert sich das weltgrößte Chemieunternehmen BASF zu den Herausforderungen der gegenwärtigen Zeitenwende. BASF schließt am Stammsitz Ludwigshafen ganze Fabrikationsanlagen, dies allerdings eher wohldosiert. Ob Ammoniak, Schaumstoff, Kunststoffvorprodukte oder Unkrautvernichter: In Deutschland werden Standorte aufgegeben und der Stammsitz „neu ausgerichtet.”

In den nächsten Jahren werden einige tausend Arbeitsplätze verschwinden, oder anders gesagt: auswandern. In China baut BASF an einem gewaltigen Verbundstandort. Die lange Vertrautheit mit dem Land kommt BASF im Fernen Osten zugute. In Deutschland, das benennt der Konzern dann doch recht offen, hindern hohe Energiekosten, Bürokratie und Steuern an sinnvollen Zukunftskonzepten.

Bayer hat bereits 1500 Stellen gestrichen

Branchenkollege Bayer nennt keine belastbaren Abbauzahlen für die Zukunft, hat aber in den ersten Monaten des Jahres bereits 1500 Stellen gestrichen. Die meisten davon im Management - was darauf hindeutet, dass der Konzern selbst ein gesundes Bürokratiewachstum hinter sich hat. Bayer will sich in Deutschland organisatorisch neu erfinden, straffer organisieren und Hierarchien abbauen.

Bayer-Chef Bill Anderson hatte schon kurz nach seinem Amtsantritt im Januar festgestellt, dass zwischen ihm und dem ersten Kunden zwölf Hierarchiestufen liegen. Beim Abbau in der Verwaltung soll es aber nicht bleiben, schlechte Nachrichten für die Beschäftigten sind zu erwarten. Betriebsbedingte Kündigungen sind erst ab 2026 möglich. Bis dahin versucht der Konzern, die Mitarbeiter mit üppigen Prämien zum Gehen zu bewegen.

Auch die Schwerindustrie wackelt

Schließlich wackelt die Schwerindustrie, in der wie bei Thyssenkrupp viele Probleme seit Jahren verschleppt werden. Zuletzt eskalierte die Lage bei der Tochter Thyssenkrupp Stahl, wo der offenbar autoritär agierende Konzernchef Miguel Lopez Führungskräfte wahlweise vergrault oder rausschmeißt. Topmanager und Aufsichtsräte ziehen Konsequenzen.

Die Dauerkrise im Stahlsektor hat bereits Tausende von Arbeitsplätzen gekostet und wird wohl noch weitere kosten - erst die Zusage von EU-Geldern für eine „grüne” Stahlproduktion hat die Lage etwas entspannt. Ob diese mit Hilfe von grünem Wasserstoff zu vertretbaren Kosten eine Zukunft hat, ist noch nicht bewiesen. In der Stahlsparte sind 27.000 Menschen beschäftigt.

Thyssenkrupp versucht seit einiger Zeit, sein Kerngeschäft durch geplante Verkäufe anderer Unternehmensbereiche zu retten. Dadurch soll das Stahlgeschäft auf eigene Beine gestellt werden. Nachdem das Top-Management von Thyssenkrupp Stahl vor kurzem vor die Tür gesetzt wurde, ist nun aber wieder alles offen. Der Aufsichtsrat des Gesamtkonzerns hat den Geschassten ein Urteil hinterher geworfen: “Unfähigkeit”. In einer Branche, die im Krisenmodus arbeitet, hat das gerade noch gefehlt.

Deutsche Industrie vor großen Herausforderungen

Die Beispiele zeigen, dass die deutsche Industrie in vielen Bereichen vor einer Herausforderung steht, die es in den letzten 60 Jahren nicht gegeben hat. Dabei vermischen sich geopolitische Probleme mit Fragen des Freihandels und hausgemachten europäischen Sonderwegen. Meldungen über Stellenabbau bei großen Mittelständlern und Konzernen bestimmen derzeit die Schlagzeilen. Nicht zu vergessen sind die Folgen für viele Regionen und kleine Zulieferer, denen der Abstieg droht.