Vor zwei Jahren bekam Julia Kiener kurz vor Weihnachten die Diagnose Zungenkrebs. Inzwischen ist sie wieder gesund, der Tumor entfernt. Ein Transplantat, geformt aus Gewebe ihres linken Oberarms, füllt das, was bösartige Krebszellen zerstört hatten und Chirurgen in einer elfstündigen Operation entfernen mussten.
Es scheint, als sei sie wieder völlig gesund, habe die Erkrankung hinter sich gelassen – wie immer mehr der fast fünf Millionen Menschen in Deutschland, die in ihrem Leben schon einmal an Krebs erkrankt sind. Abgehakt allerdings ist die Erkrankung für sie mit dem Ende der Therapie mitnichten. „Ich bin wieder gesund“, erzählt sie, „aber nicht wie vorher“. Ein Gespräch über Gleichzeitigkeit, trockene Schleimhäute und neue Prioritäten.
FOCUS online: Ihre Krebs-Diagnose liegt inzwischen fast zwei Jahre zurück. Wie geht es Ihnen heute, Frau Kiener?
Julia Kiener: Gesundheitlich gut. Es wird sogar zunehmend einfacher. Vieles, was mich früher eingeschränkt hat, verbessert sich nach und nach und ich komme besser mit der ganzen Situation klar. Gleichzeitig habe ich gelernt: Krebs hört nicht mit der Therapie oder der letzten Bestrahlung auf. Es dauert, und vieles bleibt anders.
Wie hat sich Ihr Leben seit der Diagnose verändert?
Kiener: Ich lebe bewusster, aber auch nicht mehr so unbeschwert wie früher. Der Gedanke – „Was, wenn da nochmal was ist?“ – bleibt immer irgendwo im Hinterkopf. Und manches geht auch einfach nicht mehr so wie früher.
Zum Beispiel?
Kiener: Seit der Therapie habe ich eine extreme Mundtrockenheit. Chips oder trockene Lebensmittel kann ich kaum noch essen. Nach jeder Mahlzeit schaue ich fast automatisch in den Spiegel, ob mir nicht noch etwas zwischen den Zähnen hängt, weil ich es mit meiner Zunge nicht mehr spüre. Wenn ich im Café bin, bestelle ich zum Kaffee immer Wasser dazu. Sonst sind meine Zähne danach komplett beige und der Geschmack bleibt ewig in meinem Mund.
Inwiefern hat sich auch Ihr Alltag verändert?
Kiener: Ich gehe zweimal pro Woche zur Physiotherapie und zur Lymphdrainage, was wohl auch noch viele, viele Jahre so bleiben wird – wenn nicht für immer. Dazu kommen Nachsorge-Untersuchungen und andere Arzttermine. Momentan muss ich noch alle drei Monate zur Tumor-Nachsorge, um sicherzustellen, dass ich weiterhin krebsfrei bin. Das sind keine schlimmen Termine, aber sie gehören inzwischen fest zu meinem Alltag. Nervig ist, dass das Gesundheitssystem immer noch kaum digitalisiert ist. Ich renne ständig mit Zetteln zwischen Hausarzt, Facharzt und Physio hin und her. Aber auch daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt.
Zur Person:
Julia Kiener (34) ist Unternehmerin und gründet derzeit das Hautpflege-Startup belong. cosmetics. Als bei ihr ein bösartiger Tumor an der Zunge entdeckt wird, ist sie gerade einmal 32 Jahre alt. Ihr Hausarzt vermutet zunächst allerdings Harmloses, wie sie FOCUS online schon vor einem Jahr erzählte.
Würden Sie sagen, dass Sie die Krankheit „überstanden“ haben?
Kiener: Nicht im Sinne von „abgehakt“. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an die Krankheit denke. Manchmal vergesse ich kurz, dass meine Stimme heute anders klingt als früher, und erschrecke dann selbst.
Welche Nachwirkungen begleiten Sie noch?
Kiener: Die Bestrahlung hat meine Kiefermuskulatur stark verhärtet. Meine Physiotherapie besteht deshalb vor allem darin, diese Muskeln locker zu halten, damit ich entspannter sprechen und den Mund öffnen kann. Durch die Verspannungen habe ich täglich Kopfschmerzen. Momentan versuchen wir es mit Botox für die Kiefermuskulatur in den Griff zu bekommen. Aber es ist irgendwie immer irgendwas: mal schmerzen die Narben, mal habe ich Taubheitsgefühle am Hals oder am Arm…
Was für Außenstehende nicht unbedingt sichtbar ist.
Kiener: Das stimmt. Viele glauben daher, nach der Therapie sei alles vorbei. Geheilt, Thema erledigt. Ich nehme das auch niemandem übel, oft wirkt es ja tatsächlich so. Ich selbst spreche auch nicht ständig über meine Beschwerden. Doch das heißt nicht, dass sie weg sind. Ich glaube, für niemanden, der einmal Krebs hatte, ist das Thema je wirklich erledigt. Es bleibt ein schwerer Eingriff, körperlich und emotional.
Welche Rolle spielt dabei Angst?
Kiener: Eine riesige. Jeder Kopfschmerz ist irgendwas zwischen „Jetzt mach dir keine Sorgen“ und „Was, wenn das doch etwas Ernstes ist?“ Vor ein paar Wochen hatte ich ständig Hüftschmerzen und dachte immer wieder: „Was, wenn das eine Metastase ist?“ Am Ende war es nur muskulär, aber solche Gedanken gehen nie ganz weg. Auch wenn jemand aus meiner Community einen Rückfall hat oder stirbt, macht das natürlich etwas mit mir. Manchmal empfinde ich dann sogar so etwas wie Survivor’s Guilt.
So bezeichnen Psychologen das Schuldgefühl, das Menschen empfinden, nachdem sie ein dramatisches Ereignis überlebt haben, bei dem andere gestorben sind.
Kiener: Genau. Ich denke zum Beispiel oft an ein junges Mädchen, das dieselbe Diagnose hatte wie ich. Sie ist zwei Jahre danach gestorben. Auf der einen Seite macht mich das natürlich wahnsinnig traurig. Auf der anderen Seite aber auch dankbar, es motiviert mich sogar.
Ich lebe auch für die, die es nicht mehr können
Inwiefern das?
Kiener: Weil ich mein Leben in solchen Momenten irgendwie auch für die leben will, die es nicht mehr oder gerade nicht mehr können. Nicht, weil sie nicht genug gekämpft oder irgendwas falsch gemacht hätten, sondern weil ihre Karten einfach schlechter waren.
Was hilft Ihnen, in diesen Situationen positiv zu bleiben?
Kiener: Vor allem der Austausch mit Menschen, die Ähnliches erlebt haben. Eine gute Freundin habe ich quasi über die Krankheit kennengelernt. Zu ihr kann ich sagen: „Heute ist einfach ein Scheißtag.“ Sie versteht es, ohne dass ich viel erkläre. Das ist unglaublich entlastend.
Da schwingt mit, dass nicht jeder in Ihrem Umfeld so verständnisvoll ist?
Kiener: Nein, mein Umfeld geht gut damit um. Womit ich gar nicht klarkomme, sind Sätze wie „Alles wird gut“. Manchmal wird es eben nicht gut – und das ist auch okay. Aber man muss das aushalten können. Manche Menschen können das nicht und das akzeptiere ich auch. Nur können wir dann auch keine Freunde mehr sein. Außerdem habe ich gelernt, auch mal zu sagen: „Ich will gerade keinen Ratschlag, ich will nur, dass du mir zuhörst.“
Krebsüberlebende werden oft totgeschwiegen
Die Krebshilfe fordert ein besseres Angebot an Nachsorge in Deutschland. Sie auch?
Kiener: Ja, absolut. Ich glaube, wir unterschätzen als Gesellschaft, was nach einer abgeschlossenen Krebsbehandlung tatsächlich bleibt. Sicher nicht beabsichtigt, aber Krebs macht vielen Menschen Angst, deshalb wird das Thema oft totgeschwiegen. Meistens sehen wir nur die Extreme: die Menschen, die die Krankheit scheinbar unversehrt überstanden haben, oder diejenigen, die daran sterben. Den riesigen Raum dazwischen – die Menschen, die überleben, aber weiter kämpfen – den sieht man kaum. Krebs ist immer noch stark stigmatisiert.
Fühlen Sie sich selbst stigmatisiert?
Kiener: Nein, ich thematisiere meine Krankheit aber auch nicht ständig. Ich erlebe eher dieses „Na, bei dir ist ja jetzt alles wieder gut“. Und ja, ich bin wieder leistungsfähig, motiviert, ich arbeite in Vollzeit, aber ich bin nicht „wie vorher“. Das ist für mich auch okay. Was mich stört, ist, wenn das so abgetan wird, als hätte ich nur eine Grippe gehabt.
Viele Menschen ziehen sich nach einer Krebsdiagnose auch sozial zurück. Kennen Sie das auch?
Kiener: Ja. Ich war immer gern unterwegs und unter Menschen, aber nach der Therapie musste ich mich zwingen, rauszugehen. Mein Gesicht war geschwollen, meine Aussprache hatte sich verändert. Ich hatte das Gefühl, niemand versteht mich, gleichzeitig wollte ich kein Mitleid. Heute habe ich damit kein Problem mehr und bin wieder gern unter Menschen.
Gerade gründen Sie eine Hautpflegemarke für junge Krebspatientinnen und -patienten. Inwiefern hat die Krankheit auch Ihren beruflichen Blick verändert?
Kiener: Vor allem mein Fokus hat sich geändert. Ich will meine Lebenszeit sinnvoll verbringen. Früher dachte ich: Irgendwann engagiere ich mich stärker für das Thema Gesundheit, irgendwann gebe ich etwas zurück. Aber wer sagt mir, dass ich dieses Irgendwann erlebe? Also habe ich entschieden, es jetzt zu tun. Mit meiner Marke will ich nicht nur gute Produkte schaffen, sondern auch Sichtbarkeit und einen Safe Space für Krebspatientinnen und -patienten. Deshalb wollen wir auch regelmäßig Veranstaltungen organisieren, bei denen Betroffene Kraft tanken, sich vernetzen und Normalität erleben können.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Kiener: Ich plane nicht mehr wirklich, wer weiß, was in fünf Jahren ist. Aber ich freue mich, beruflich jetzt neu durchzustarten und dass ich überlebt habe. Trotzdem ärgere ich mich oft, dass ich überhaupt krank war. Diese Gleichzeitigkeit ist mein Alltag geworden. Ich lebe mehr im Moment, weil ich weiß, dass nichts selbstverständlich ist. Und ja, manchmal trauere ich um mein früheres Ich. Aber auch das gehört dazu. Krebs verändert dich – und das Leben danach.