Debatte um Schuldenbremse: Experte sieht „tiefgreifende strukturelle Probleme“

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Der Ökonom Thiess Büttner warnt vor einer Lockerung der Schuldenbremse. Er sieht „strukturelle Probleme“ – und fordert Reformen.

Berlin – Deutschland steht angesichts der schwachen wirtschaftlichen Lage und der immer älter werdenden Gesellschaft zukünftig vor einer Tragfähigkeitslücke. Die gesamtstaatliche Verschuldung könnte sich im schlechtesten Fall bis 2070 auf 345 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vervielfachen, warnt das Bundesfinanzministerium im aktuellen Tragfähigkeitsbericht. Christian Lindner sieht den Befund als „Appell an die Politik, Strulturreformen in allen relevanten Politikbereichen“ anzustoßen.

Die Ausgestaltung der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung sei „in ihrer jetzigen Form langfristig nicht mehr finanzierbar“, sagte Lindner. „Ohne strukturelle Reformen und ohne Wende in unserer wirtschaftlichen Entwicklung wird uns die Belastung in den nächsten Jahrzehnten zunehmend die Luft zum Atmen nehmen“, erklärte der FDP-Politiker auf X (vormals Twitter). Lindner plädiert damit erneut für einen Sparkurs.

Ökonom Büttner mahnt Reformen bei Rente, Kranken- und Pflegeversicherung an

Unterstützung erhält der Finanzminister vom Wirtschaftswissenschaftler Thiess Büttner von der Universität Erlangen-Nürnberg. „Der Staat müsste jährlich zwischen 66 Milliarden Euro und 194 Milliarden Euro mehr einnehmen – oder weniger ausgeben“, sagte der Vorsitzende des unabhängigen Stabilitätsrats der Bundesregierung gegenüber der Wirtschaftswoche.

„Auf Dauer sind insbesondere Reformen in der sozialen Sicherung, unter anderem bei Pflege-, Kranken- und Rentenversicherung erforderlich.“ Dazu fehle derzeit der politische Wille. Tatsächlich haben Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (beide SPD) Einsparungen beim Sozialstaat abgelehnt.

„Keine wirtschaftspolitische Strategie“: Ökonom rechnet mit Ampel-Politik ab

Neben der schwachen Konjunktur sieht Büttner vor allem die alternde Gesellschaft als einen „wesentlichen Treiber“ der zusätzlichen Belastung für den Staatshaushalt. „Wenn aufgrund der demografischen Entwicklung immer weniger Bürger arbeiten, nimmt der Staat auch immer weniger Steuern und Sozialversicherungsbeiträge ein“, sagte der Experte der Wirtschaftswoche. „Gleichzeitig erhalten aber mehr Bürger Leistungen, etwa aus der Rentenversicherung oder durch die Grundsicherung.“

Eine bessere wirtschaftliche Lage könnte die Haushaltslücke entlasten. „Die Bundesregierung hat bisher aber offenbar keine gemeinsame wirtschaftspolitische Strategie, die das erreichen kann“, stellt Büttner jedoch fest. Ein milliardenschweres Investitionspaket des Bundes für mehr Wirtschaftswachstum hält Büttner jedoch nicht für eine Lösung. Wirtschaftsminister Robert Habeck hatte die Idee angestoßen.

Ökonom Büttner fordert Ampel zur Ausrichtung der Politik an der Schuldenbremse auf

„Besser wäre es, die Regierung würde das Budget an den Vorgaben der Schuldenbremse ausrichten“, sagte der Professor für Volkswirtschaftslehre. Der Tragfähigkeitsbericht unterstreiche das. Büttner verweist auf das günstigste Szenario des Berichts, wonach die Schuldenquote bis 2070 auf 140 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen könne. „Es gibt derzeit keine Spielräume für weitere Umgehungen der Schuldenbremse.“ Angesichts der Verhandlung über den Haushalt 2025 hoffe er, „den Koalitionspartnern wird klar, dass sich die Finanzpolitik nur im Rahmen der selbst gesetzten Grenzen bewegen kann“.

Der Stabilitätsratsvorsitzende Thiess Büttner gibt eine Pressekonferenz
Ökonom Thiess Büttner sieht keine gemeinsame haushaltspolitische Linie bei der Ampel-Regierung und fordert ein Festhalten an der Schuldenbremse. (Archivfoto) © Britta Pedersen/dpa

Büttner sieht die Schuldenbremse oder Sparmaßnahmen nicht als Ursache der wirtschaftlichen Lage. Man habe „gewaltige Programme“ aufgelegt und die Staatsquote sei „massiv“ gestiegen. „Wir haben tiefgreifende strukturelle Probleme“, sagte der Ökonom der Wirtschaftswoche. „Seit Jahren hat die Politik immer wieder versucht, strukturelle Probleme darüber zu lösen, dass der Staat zusätzliches Geld in die Hand nimmt.“ Das habe nicht funktioniert.

Laut Büttner muss die Bundesregierung unter anderem eine glaubwürdige Strategie der Energieversorgung entwickeln sowie die Frage beantworten, ob es auch in Zukunft qualifizierte Arbeitskräfte gebe. „Wichtig wäre auch eine Unternehmenssteuerreform.“

Gewerkschaftsnahe Studie sieht ausbleibende Reform der Schuldenbremse als „gravierendes Versäumnis“

Das Festhalten an der Schuldenbremse, insbesondere ohne Ausnahmen für Investitionen, ist jedoch auch unter Ökonomen nicht unumstritten. „Deutschland steckt in einem bizarren haushaltspolitischen Chaos, das es selbst verursacht hat“, titelte etwa die britische Wirtschaftszeitung The Economist schon im November 2023. Auch die Wirtschaftsweisen plädierten für eine Reform der Schuldenbremse.

Die ausbleibende Reform der Schuldenbremse zugunsten von Investitionen sieht auch das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung als ein „gravierendes Versäumnis“. „Im vergangenen Jahr begründeten die Energiepreisschocks, die besonders stark trafen, das schwache Wachstum in Deutschland. In diesem und im kommenden Jahr ist es die Schuldenbremse, die Deutschland zum wirtschaftlichen Schlusslicht unter den Industrieländern macht“, erklären die Ökonomen rund um Sebastian Dullien in ihrer ebenfalls am Mittwoch, 20. März, veröffentlichten Konjunkturprognose.

Auch Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat für Investitionen im Bereich der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur und beim „digitalen und klimagerechten Umbau des Landes“ geworben. Für die „dringendsten staatlichen Investitionsaufgaben“ seien „400, wenn nicht 500 Milliarden Euro“ nötig, erklärte Hüther im vergangenen Jahr.

Reform der Schuldenbremse wohl ohne nötige Mehrheit

Politisch sind eine Reform der Schuldenbremse oder im Grundgesetz festgeschriebene Sondervermögen für Investitionen jedoch unrealistisch. Dafür ist eine Zweidrittelmehrheit nötig. Die Ampel-Koalition müsste sich einig sein und zusätzlich CDU und CSU einbeziehen. (ms mit afp)

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