Erste Hilfe in Deutschland: Warum so wenige helfen – und was wir jetzt ändern müssen
Als Notarzt erlebe ich sie immer wieder: Menschen, die auf offener Straße zusammenbrechen, und die umstehenden Passanten tun… nichts. Sie rufen die 112, schauen nervös um sich – und niemand beginnt mit der Reanimation. Minuten vergehen, in denen ich oft nur hoffen kann, dass wir noch rechtzeitig eintreffen.
Ich frage mich jedes Mal: Warum fällt es so vielen so schwer, aktiv zu helfen, obwohl es im Ernstfall über Leben und Tod entscheidet?
Deutschland hilft zu selten – und das kostet Leben
Statistiken zeigen: Nur etwa 40 bis 50 Prozent der Deutschen leisten im Notfall Erste Hilfe. In Skandinavien sind es über 70 Prozent.
Für Patienten mit Herzstillstand zählt in den ersten Minuten nicht die Technik, sondern der Mensch, der als Erster danebensteht. Jede Minute ohne Reanimation senkt die Überlebenschance um etwa zehn Prozent.
Warum wir zögern – aus meiner Sicht
Angst vor Fehlern
Viele Menschen fürchten, etwas falsch zu machen. Ich sage meinen Patienten oft: „Wenn Sie zögern, ist das die größte Gefahr. Drücken Sie einfach.“ In der Praxis erlebe ich, wie lähmend diese Angst sein kann – selbst bei gut informierten Erwachsenen.
Veraltetes Wissen
Erste-Hilfe-Kurse liegen bei vielen Jahrzehnten zurück. Wer zuletzt mit 18 an einem Kurs teilgenommen hat, ist im Ernstfall oft überfordert. Auffrischungen sind selten verpflichtend – dabei geben sie Sicherheit. In meiner Praxis empfehle ich daher regelmäßig, das Wissen aufzufrischen.
Der Bystander-Effekt
Je mehr Menschen zusehen, desto weniger handelt jemand. Ich habe selbst Einsätze erlebt, bei denen ein bewusstloser Mensch auf der Straße lag, zehn Personen drum herum standen – und niemand aktiv wurde. Das ist erschreckend, aber menschlich nachvollziehbar.
Defibrillatoren, die keiner nutzt
Automatisierte Defibrillatoren (AEDs) sind inzwischen in vielen Städten verfügbar, werden aber oft nicht gefunden oder nicht benutzt. Dabei leiten die Geräte Schritt für Schritt an – und machen fast alles richtig. Wer sie kennt, rettet Leben.
Dr. Christoph Nitsche ist Facharzt für Innere Medizin und Notfallmedizin. Seine Facharztausbildung absolvierte er am Marienhospital Euskirchen mit Schwerpunkt in der Kardiologie und Notfallmedizin. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.
5 Dinge, die wir ändern müssen – aus meiner Praxisperspektive
1. Pflichtauffrischung für alle
Ein verpflichtender Erste-Hilfe-Kurs alle drei bis fünf Jahre könnte die Quote der Helfer deutlich erhöhen – ähnlich wie beim Führerschein.
2. Erste Hilfe in Schulen
Wenn Kinder und Jugendliche Reanimation lernen, bleibt diese Kompetenz ein Leben lang. Ich habe erlebt, dass Jugendliche manchmal schneller und mutiger reagieren als Erwachsene.
3. Mehr Sichtbarkeit für AEDs
Defibrillatoren müssen genauso leicht auffindbar sein wie Feuerlöscher. Ich empfehle meinen Patienten, die Standorte in der Umgebung zu kennen.
4. Öffentliche Übungsangebote
Übungsstationen in Einkaufszentren, Bahnhöfen oder Vereinen senken Hemmschwellen. Je vertrauter das Drücken ist, desto eher trauen sich Menschen im Ernstfall.
5. Telefonische Reanimationsunterstützung
Viele Leitstellen führen bereits die „Telefonreanimation“ durch. Schritt für Schritt wird Anrufern erklärt, was sie tun müssen – und Panik wird reduziert. Das sollte bundesweit Standard sein.
Fazit: Erste Hilfe ist kein Expertenwissen – sie braucht Mut
Aus meiner Erfahrung als Hausarzt, Internist und Notarzt kann ich sagen: Mut entscheidet. Mut, hinzuschauen, Verantwortung zu übernehmen – auch wenn man unsicher ist.
Wenn wir diesen Mut in Deutschland fördern, retten wir nicht nur Leben – wir schaffen eine Kultur, in der Helfen selbstverständlich wird.