Kommentar von Ansgar Graw - Europa, du bist gefeuert: In Trumps Egotrip liegt auch eine große Chance

Bei seinem ersten Amtsantritt, 2017, wirkte Donald Trump, äußerlich der alkoholabstinente Gentleman mit Anzug und Krawatte, wie der rücksichtslose Schlägertyp im Hinterhof. 

Bei seinem zweiten Amtsantritt dachten viele Beobachter, Trump sei jetzt anders, gütiger, gerechter. Nix da! 

Sein unerhörter Versuch der öffentlichen Bloßstellung von Wolodymyr Selenskyj, den der amerikanische Präsident im Oval Office gemeinsam mit seinem Vize J.D. Vance zur Kapitulation und zur Unterzeichnung eines Waffenstillstand-Deals mit Russland plus Bodenschürfrechten für die USA nötigen wollte, erinnerte uns daran: Trump ist immer noch der rücksichtslose Schlägertyp auf dem Hinterhof. 

Er hat gerade eine junge europäische Demokratie verbal zusammengeknüppelt und an den Rest des Kontinents das Signal gegeben: „America First“ bedeutet „Europe alone“.

Europa, du bist gefeuert

Insbesondere sein Amtskollege Wladimir Putin in Moskau dürfte ausgesprochen glücklich über diesen Egotrip des US-Präsident vor den Kameras der Weltpresse sein. Aber wirklich freuen sollte sich das freie Europa. 

Nicht darüber, dass Trump die alte Weltordnung zerstört. Sondern darüber, dass er das live und in Farbe und authentischer als in jeder seiner einstigen „The Apprentice“-Reality-Shows getan hat: „Europe, you’re fired“, Europa, du bist gefeuert. 

Selten wurde die Welt so authentisch Zeuge eines geschichtlichen Bruchs: Das atlantische Jahrhundert ist vorüber, die Ära Trump bestimmt bis auf weiteres die Ordnung der Welt.

Das ist eine Rückkehr zu einer Epoche, die vor 200 Jahren ausgerufen wurde: Europa sollte sich nicht in die Angelegenheiten Amerikas einmischen, und umgekehrt würden sich die USA aus europäischen Konflikten heraushalten, verkündete die Monroe-Doktrin 1823. 

Deutscher Kanzler versprach „bedingungslose Loyalität“

Vor gut 100 Jahren, im Ersten Weltkrieg, engagierte sich Washington vorübergehend wieder auf dem „alten Kontinent“, und vor 80 Jahren, nach dem Zweiten Weltkrieg, schienen sie sich auf einen dauerhaften Verbleib in Westeuropa einzulassen, um dem Expansionsdrang der Sowjetunion Einhalt zu gebieten.

Dann kam es zum Sieg des Westens im Kalten Krieg, manchen schienen Bündnisse überholt und der amerikanische Geschichtsphilosoph Francis Fukuyama verkündete ein „Ende der Geschichte“ und den weltweiten Siegeszug liberaler Demokratien. 

Doch so kam es nicht, schon wegen des globalen Aufkommens eines radikalen Islamismus, und als am 11. September 2001 Al-Qaida-Terroristen Tod und Verzweiflung nach New York und Washington brachten, war es ein deutscher Kanzler, der den angegriffenen USA „bedingungslose Loyalität“ versprach.

Nach Trumps Live-Show ist jeder im Bilde

Loyalität ist für Trump kein politischer Begriff. Er hat die transatlantische Gemeinschaft seit geraumer Zeit in verschiedenen Stufen aufgekündigt. 

Von der Infragestellung der Nato über Territorialansprüche gegenüber Dänemark bis zur Beschimpfung Selenskyjs als „Diktator“, rückte er von den bisherigen Partnern ab. 

Die tragen ihren Teil der Mitverantwortung daran, blieben sie doch unbeeindruckt von allen Ermahnungen der Präsidenten George W. Bush, Barack Obama und Trump, mehr in die gemeinsame Verteidigung zu investieren. 

Das taten sie nicht, und nun müssen wir mit den Konsequenzen dieses Versäumnisses und einem ignoranten US-Präsidenten leben müssen. Und nach seiner Live-Show ist immerhin jeder im Bilde. Gut so. 

Washington hätte viel verloren, aber nichts gewonnen

Denn nichts ist übler als ein Bündnis, das von einem Partner beendet wurde, ohne dass es der andere begriffen hat. Das gilt für die Ehe, wo der eine noch von der ewigen Liebe träumt, während der andere längst an neuen Ufern vor Anker gegangen ist. 

Und das hat noch ganz andere Dimensionen in einer Verteidigungsgemeinschaft, in der die Europäer für den Tag X die Hilfe ihrer Führungsmacht einkalkulierten, während der nichts wichtiger ist, als mit dem potenziellen Aggressor Putin handelseinig zu werden. Um Russland China zu entfremden? 

Das wäre immerhin eine Strategie. Aber sie lässt sich in den dreieinhalb Jahren, die Trump in seiner letzten Amtszeit noch zur Verfügung stehen, nicht umsetzen – und sie könnte nur in Kooperation mit den Europäern realisiert werden, nicht gegen sie. 

Denn ohne sie droht schlicht eine Ausweitung der russisch-chinesischen Kumpanei zunächst bis in die Ukraine – und irgendwann später viel tiefer nach Europa hinein. Damit hätte Washington nichts gewonnen, aber viel verloren.