Tanzwerkstatt Europa eröffnet mit „Ring“: Unser Körper – ein Wunderwerk

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Wer im Ring Platz nimmt, weiß nicht genau, was geschieht. Felix Ruckerts Ensemble tritt in einen individuellen körperlichen Dialog mit den Zuschauerinnen und Zuschauern: achtsam und doch voller Energie. © Michael REINECKE/TWE

Die Tanzwerkstatt Europa wurde in diesem Jahr mit „Ring“ von Choreograf Felix Ruckert in der Münchner Muffathalle eröffnet. Unsere Kritik:

Es heißt „Im Anfang war das Wort“ – und so ist es auch hier, bei „Ring“, dieser Choreografie von Felix Ruckert, die auf eine ganz besondere Art das Publikum fordert. Ruckert brachte die Arbeit bereits 1999 zur Uraufführung. Zu einer Zeit also, als das Wort „immersiv“, ohne das heute kaum ein Kulturveranstalter auskommt, recht unbekannt war. Und doch machte „Ring“ schon damals die Zuschauerinnen und Zuschauer zum Teil des Kunstwerks. Im vergangenen Jahr wurde die Produktion wieder aufgenommen – eine Feier des Miteinanders und der Nähe nach den Pandemie-Jahren. Nun gastierte „Ring“ zwei Abende in der ausverkauften Münchner Muffathalle zum Auftakt der Tanzwerkstatt Europa (siehe Kasten).

„Ring“ von Felix Ruckert wurde 1999 uraufgeführt

Das Stück hat seinen Titel vom Kreis aus 20 Stühlen, der in der Mitte des Saals aufgebaut ist. Wer hier Platz nimmt, wird Teil der Performance, wird bewegt und berührt von den Tänzerinnen und Tänzern, darf diese bewegen und berühren, bis sie auf ein akustisches Signal hin im Uhrzeigersinn von Platz zu Platz wechseln. Rund 40 Minuten dauert eine Aktionsschleife, fünf Durchgänge finden zur Premiere am Dienstag (30. Juli 2024) statt. Die Struktur ist identisch und doch gleicht keine Folge der anderen. Das ist eine enorme Leistung des Ensembles – und ein eindrucksvolles Erlebnis voller Energie für alle: natürlich für jene, die im Ring Platz nehmen, aber auch für diejenigen, die aus sicherer Entfernung zuschauen.

Szene aus „Ring“ bei der Tanzwerkstatt Europa in der Münchner Muffathalle
Im Kontakt: eine Tänzerin und eine Zuschauerin bei „Ring“. © Michael REINECKE/TWE

Logisch, dass diese Choreografie von der Bewegung lebt, vom Dialog zwischen den Körpern, bei dem es tatsächlich völlig wurscht ist, wer Profitänzer ist und wer Amateur. Dennoch spielt Ruckert mit dem Beginn seines „Ring“ auf die biblische Schöpfungsgeschichte an: Da wispern die Tänzerinnen und Tänzer den Menschen auf den Stühlen ins linke Ohr. Was hier gesprochen wird? Ein Geheimnis, klar. Manche Gäste treten in einen leisen Dialog, andere lauschen mit geschlossenen Augen. Alles kann, nichts muss.

Szene aus „Ring“ bei der Tanzwerkstatt Europa in der Münchner Muffathalle
Am Klavier: Pianistin Ulrike Haage. © Michael Reinecke/TWE

Dann gibt es erste Körperkontakte, ein Streicheln hier, eine Umarmung dort. Die Nähe ist letztlich Zufall, ist unterschiedlich intensiv und folgt doch zumindest einem Konzept: dem der Steigerung. Besonders eindrucksvoll ist es, wie achtsam Künstlerinnen und Künstler auf individuelle Körperlichkeit und persönliches Distanzbedürfnis der Menschen vor ihnen eingehen. Der Eindruck am Premierenabend: Ältere Zuschauer und Männer tun sich schwerer als jüngere und Frauen, Nähe zuzulassen und zu genießen.

Die Tanzwerkstatt Europa läuft noch bis 9. August 2024

Nach gut 20 Minuten schließt der Ring sich zum ersten Mal – die Performer stellen rundum Kontakt zu ihrem Publikum her: Die Energie, die dadurch entsteht, entlädt sich kurz darauf im Aufspringen und Sammeln im Inneren des Kreises – sowie in der Musik. Denn „Ring“ ist auch ein akustisches Erlebnis: Ulrike Haage und Christian Meyer begleiten den Tanz mit minimalistischen Klangfolgen, die einen Sog entwickeln. Das rundet diese Choreografie zu einer Feier der Wunderwerke, die unsere Körper sind – nicht nur als Bewegungsapparate, sondern als Gefühlsorgane im Miteinander. Ganz ohne Worte.

Die Tanzwerkstatt Europa

Die Tanzwerkstatt Europa läuft in diesem Jahr bis zum 9. August 2024 an verschiedenen Spielorten in München. Das Festival gibt es seit 1991 und versteht sich als „Werkstatt für neue Ideen und Ästhetiken“, um Impulse im zeitgenössischen Tanz und in der aktuellen Performance-Kunst zu setzen. So wird München für zehn Tage zum Treffpunkt der internationalen Tanzszene. Neben den Vorstellungen gibt es ein umfangreiches und spannendes Workshop-Programm, das sich an Profis und Amateure richtet. Weitere Informationen und Tickets gibt es unter www.jointadventures.net.

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