Putins Attacke auf die Nato: „Alle drei Punkte müssten zusammenkommen“
„Die kleinen grünen Männchen waren ein Einzelfall“: Griffe Russland Nato-Gebiet an, würde es anders agieren, sagt Expertin Minna Ålander im Interview.
In Deutschland geht die Sorge vor einem Angriff Russlands auf die Nato um. Tatsächlich warnen auch Geheimdienste und Experten: Es könnte bereits in wenigen Jahren so weit sein. Und würde wohl einen Krieg bedeuten – oder stetige Sorge vor immer neuen Übergriffen.
Minna Ålander ist Expertin für die Verteidigungspolitik der Nato, insbesondere der nordischen und baltischen Staaten. Dass Wladimir Putin etwa an der finnischen Grenze aufrüsten lässt, war erwartbar, meint sie. Dass es dabei nur um Defensive geht, glaubt sie nicht. Offen ist ihr zufolge aber, ob ein Angriff tatsächlich kommt – und wie er aussehen würde. Im Interview mit dem Münchner Merkur erklärt die Wissenschaftlerin des Center for European Policy Analysis, welche Szenarien möglich und welche eher unwahrscheinlich sind. Aber auch, was Deutschland beim Bundeswehr-Engagement in Litauen bedenken sollte.
Russischer Angriff auf die Nato? „Alle drei Punkte müssten zusammenkommen“
Frau Ålander, in Deutschland wurde in den vergangenen Monaten stark die Geheimdienst-Warnung diskutiert, dass Russland einen Angriff auf Nato-Gebiet zumindest als Provokation testen könnte. Zum Beispiel im Baltikum. Ist das als eine Art Weckruf gedacht – oder muss sich das Bündnis wirklich auf diese Gefahr vorbereiten?
Ich würde sagen, dass das nicht unmöglich ist. Offen scheint aber, ob es ausgerechnet das Baltikum ist oder ein anderes Ziel. Wenn Russland dort hätte angreifen wollen, wäre es geschickter gewesen, das vor Finnlands und Schwedens Nato-Beitritt zu tun. Und bevor die Nato ihre militärische Präsenz und Aktivitäten verbessern konnte. Ich glaube, in Deutschland unterschätzt man oft die Vorbereitung und die eigenen Verteidigungspläne von Litauen, Lettland und Estland. In Deutschland glaubt man auch oft, das könnte so eine Art Überraschungsangriff sein.
Das Baltikum war also längere Zeit sehr verletzlich?
Die Szenarien für die Verteidigungsfähigkeit der Nato sahen schon recht düster aus. Jetzt ist die Flanke aus russischer Sicht viel länger, das Baltikum ist nicht mehr so isoliert. Russland könnte kaum hoffen, einen begrenzten Angriff zu starten und das Baltikum vom Rest der Nato isoliert zu halten.
Ungeachtet dessen: Einen „Überraschungsangriff“ halten Sie für unrealistisch?
Ich denke, das wird nicht mehr funktionieren. Die „grünen Männchen“ auf der Krim – das war wirklich ein Einzelfall. Jetzt wissen alle, wie das aussehen würde. Zudem wäre es schwer für Russland, die Balten zu überraschen. Sie beobachten Russlands Agieren ganz genau. Ein Angriff ist immer eine Frage der militärischen Fähigkeiten, des politischen Willens und des Timings. Alle drei Punkte müssten zusammenkommen.
Derzeit tun sie das nicht?
Die Wahrscheinlichkeit ist wohl höher als vor Trumps Amtsantritt. Er hat mit der Unsicherheit bezüglich der amerikanischen Unterstützung für Europa ein Möglichkeitsfenster geöffnet. Die Abschreckungsfähigkeit der Nato ist schon etwas in Mitleidenschaft gezogen. Und dann ist aus russischer Sicht eben die Frage, ob es sich lohnt, den Europäern fünf bis zehn Jahre Zeit zu geben. Oder ob man lieber jetzt handelt. Natürlich spielt auch der weitere Fortgang in der Ukraine eine Rolle.
„Die Frage lautet: Was ist Russlands Interesse daran, die Nato zu testen?“
Inwiefern?
Es ist zynisch, das zu sagen, aber: Der Krieg gegen die Ukraine schränkt Russlands Fähigkeit, weitere Angriffe zu planen, zumindest stark ein. Aber ich muss noch etwas hinzufügen.
Alles, was man tun kann, um in Russland Unsicherheit über die mögliche westliche Reaktion zu schaffen, ist gut.
Bitte.
Die Frage lautet: Was ist Russlands Interesse daran, die Nato zu testen? Militärische Angriffe sind nicht unbedingt die für Putin vorteilhafteste Variante. Eine andere Option ist der hybride Bereich, der „death by thousand papercuts“, also der Tod der vielen kleinen Nadelstiche. Mit einem militärischen Angriff riskiert Russland, dass die Nato eben doch funktioniert und handelt. Da müsste sich der Kreml schon sehr sicher sein, dass es auf keinen Fall eine Reaktion gibt.
Wie gut vorbereitet ist etwa das Baltikum denn auf einen möglichen Angriff? Und ist die Bundeswehr-Brigade in Litauen ein wichtiger Beitrag oder eher Symbolpolitik?
Ich kenne mich am besten mit Estland aus – und mein Eindruck ist, dass Estland ziemlich gut vorbereitet ist. Allerdings haben alle drei Staaten das Problem, dass ihre Möglichkeiten sehr begrenzt sind, schon wegen der Größe ihrer Fläche und ihrer Bevölkerungszahl. Sie können einfach keine komplett eigenständige Verteidigungsfähigkeit entwickeln. Alle drei Staaten peilen fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung an, Estland hat das sogar schon erreicht. Aber in absoluten Zahlen sind das nur ein paar Milliarden Euro. Dafür bekommt man nicht besonders viel. Vor allem was teure Systeme wie Luftverteidigung und Flugabwehr angeht. Da muss sich auch Deutschland Gedanken machen.
Bundeswehr in Litauen: „Die deutsche Präsenz ist schon wichtig“
Was sollte die Bundesrepublik tun?
Entscheidend ist die Frage: Was sind die wichtigsten deutschen Unterstützungsleistungen? Deutschland ist in Litauen, um eine Landinvasion abzuschrecken. Das ist aber nur eines der möglichen Szenarien. Deutschland sollte auch schauen, ob es mit Flugabwehrsystemen helfen kann. Aktuell muss natürlich die Ukraine Priorität haben. Aber langfristig muss man sehen, ob man Luftabwehr stellen kann. Das Baltikum kann das einfach nicht selbst leisten.
Die neue Brigade genügt also nicht.
Die deutsche Präsenz ist schon wichtig! Sie ist vielleicht erstmal ein politisches Zeichen. Aber das sollte man nicht unterschätzen. Denn Abschreckung ist vor allem ein psychologischer Effekt. Alles, was man tun kann, um in Russland Unsicherheit über die mögliche westliche Reaktion zu schaffen, ist gut. Man muss eben immer wieder neu bewerten: Was ist das wahrscheinlichste Szenario? Und überlegen, wie man das Baltikum gegen einen großflächigen Raketen- oder Drohnenangriff wie in der Ukraine verteidigen kann. (Interview: Florian Naumann)