Nach Merz-Statement im TV: Experte wagt Prognose, wann Putin verhandeln wird

Pinar Atalay ist am Montag bei ntv mit einer neuen Talkreihe an den Start gegangen. Ihr erster Gast: Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU). Der Regierungschef präsentierte sich entschlossen. Dementsprechend versuchte er, bei verschiedenen Themen klare Kante zu zeigen: Steuern, Rente, Arbeitsmarkt.

Ein anderer Bereich, über den Atalay mit dem Kanzler sprach, war die Sicherheitslage in Europa. Es ging um die Drohnen, die zuletzt über verschiedenen Ländern - Dänemark, Polen, Estland und auch Deutschland - gesichtet worden waren. Schnell kam der Verdacht auf, dass Moskau etwas damit zu tun haben könnte. Der Kreml wies die Anschuldigungen zurück.

Merz betonte bei Atalay, man kenne die Bedrohung und könne sie einschätzen. Über den russischen Präsidenten Wladimir Putin sagte er: "Er will uns Angst machen. Wir lassen uns nicht einschüchtern. Wir werden uns gegen diese Bedrohung wirksam zur Wehr setzen."

"Wird den Tag geben, an dem Putin zu Gesprächen bereit ist"

Moskau führe einen hybriden Krieg, einen "Informationskrieg". "Putin will die politische Ordnung unseres Kontinents auf den Kopf stellen. Russland ist ein Feind unserer politischen Ordnung. Aber es wird den Tag geben, an dem Putin zu Gesprächen bereit ist", so der Bundeskanzler. 

Diese These begründete er unter anderem mit der zunehmend geschwächten russischen Wirtschaft und den dortigen "politischen Instabilitäten". Es ist eine bemerkenswerte Aussage von Merz. Er legt nahe, dass der Kreml-Chef in eine ungünstige Position rutschen könnte, in der er sich dem Westen gegenüber kooperativ verhalten müsste. 

Klemens Fischer, Professor für Internationale Beziehungen und Geopolitik an der Universität zu Köln, sieht Merz' Statement kritisch. Für ihn stellt sich die Frage, was Putin dazu bewegen sollte, Gesprächsbereitschaft zu zeigen. 

"Er wird weiterhin Angst verbreiten wollen, seinen hybriden Krieg fortsetzen, die politische Ordnung des Kontinents auf den Kopf stellen und unserer politischen Ordnung feindlich gegenüberstehen", sagt er zu FOCUS online.

Gesprächsbereiter Putin: Nur aus zwei Gründen denkbar

Laut Fischer wäre der russische Präsident nur in zwei Situationen dialogbereit: "Putin erreicht alle seine Ziele in der Ukraine und verhandelt mit dem Westen über die Konditionen, einen weiteren Vormarsch zu stoppen oder er gerät in der Ukraine auf die Verliererstraße und sucht einen Ausweg."

Eine drohende Niederlage Russlands in der Ukraine sei mittelfristig allerdings genauso wenig absehbar wie der große strategische Durchbruch. "Realistischerweise wird Putin dann reden wollen, wenn er die Möglichkeit sieht, gesichtswahrend den Ukraine-Krieg beenden zu können, also die Krim, den gesamten Donbass und große Teile der beiden südlichen Oblaste zu behalten."

Kremlchef Wladimir Putin.
Kremlchef Wladimir Putin. picture alliance / ZUMAPRESS.com | Alexander Kazakov

Merz sprach bei Atalay außerdem über gefälschte Videos, die über ihn verbreitet würden und die Teil des "Propagandakrieges Russlands gegen uns alle" seien. Der Bundeskanzler sagte: "Putin will nicht verhandeln, er will bombardieren. Ich sehe, dass im Augenblick jeder Versuch, mit ihm zu sprechen, in noch härteren Angriffen auf die Ukraine endet."

Fischer: "Merz ist Realpolitiker"

Das bedeutet auch: Merz sieht derzeit offenbar keinen Bedarf, mit Putin zu telefonieren, da er sich keine Änderung der russischen Vorgehensweise in der Ukraine verspricht. "Er ist Realpolitiker", urteilt Fischer. 

Merz' Vorgänger Olaf Scholz (SPD) hatte sich Ende 2024 auf ein Telefonat mit dem Kreml-Chef eingelassen. Allerdings ohne, dass inhaltlich viel Neues dabei herausgekommen wäre. Der aktuelle Kanzler wolle sich die Blöße, bei einem Gespräch nichts erreicht zu haben, ersparen, glaubt Fischer.

"Andererseits ist es eine anerkannte Basis für erfolgreiche Diplomatie, Gesprächskanäle offenzuhalten. Derartige Gespräche haben vielleicht keine unmittelbare Auswirkung, sie dienen aber auch dem Erkenntnisgewinn über den Zustand der anderen Seite und die Argumentationsketten."

Merz könnte ein Vakuum füllen

Der Geopolitik-Experte denkt auch, dass Merz mit entsprechenden Bemühungen das Vakuum füllen könnte, das sich gerade auf internationaler Ebene durch die innenpolitische Schwächung Emmanuel Macrons entwickelt. Ehemalige Vertraute gehen auf Distanz zum französischen Präsidenten, sein früherer Premierminister Édouard Philippe forderte ihn sogar zum Rücktritt auf.

"Wenn Merz sein Ziel, einer der dominierenden Faktoren der europäischen Politik zu werden, konsequent verfolgen will, wird er um Telefonate mit Putin nicht herumkommen", sagt Fischer. "Oder jemand anderes wird dieses Vakuum füllen."