Bericht aus Tel Aviv: „Die Wände vibrierten, als die Abwehrbatterien in Aktion traten“
Die Menschen in Israel haben zwei dramatische Nächte hinter sich. In der Nacht auf Freitag heulten um drei Uhr Früh im ganzen Land die Sirenen. Es war kein eigentlicher Raketenalarm, sondern eine Art Vorwarnung.
Der Zivilschutz hatte beschlossen, alle zehn Millionen Bürgerinnen und Bürger aufzuwecken, um ihnen mitzuteilen: Die israelische Luftwaffe greift in diesen Minuten den Iran an, die Lage ist grundlegend verändert, wir sind im Krieg und müssen mit massiven Gegenschlägen rechnen.
Leben im Ausnahmezustand: Vorräte, Verbotene Versammlungen und Warten auf den Einschlag
Die Bevölkerung wurde angewiesen, ab nun immer in der Nähe eines Schutzraums zu bleiben und sich mit Wasser, Lebensmitteln, Radio, Spielen für die Kinder für einen möglichen längeren Aufenthalt einzurichten. Bis auf Weiteres wurde der Schulunterricht abgesagt und Menschenansammlungen verboten – insbesondere konnte die für Freitag vorgesehene große Pride Parade in Tel Aviv, das als eine der Gays-freundlichsten Städte der Welt gilt, nicht stattfinden. Und besonders unangenehm: Israel ist vorläufig von der Außenwelt abgeschnitten. Auch die nationale Fluggesellschaft El Al hat alle Starts gestrichen, weil der Ben-Gurion-Flughafen bei Tel Aviv gesperrt ist.
Am Freitagvormittag waren dann viel weniger Menschen auf den Straßen als sonst vor einem Wochenende. Dafür waren die Schlangen vor den Supermarktkassen länger als gewöhnlich – nein, keine Panik und keine Hamsterkäufe, aber man wollte halt doch die Vorräte aufstocken.
Den ganzen Freitag über wartete man dann nervös auf die iranischen Raketen. Zunächst flogen aus dem Iran „nur“ rund 100 Selbstmorddrohnen heran, die offenbar alle abgefangen wurden, bevor sie Israel erreichten. Wollten die verwirrten Mullahs noch über die angemessene Reaktion nachdenken, oder konnten sie womöglich ihre Drohungen nicht wahr machen, weil die israelische Luftwaffe Raketenstellungen am Boden zerstört hatte?
Angriff in der Nacht: Sirenen heulen, Raketen fliegen – und Israels Abwehrsystem läuft auf Hochtouren
Doch in der Nacht auf Samstag ging es los. Kurz nach 21 Uhr Ortszeit, dann gegen 1 Uhr, dann gegen 5 Uhr kam durch die lokalen Sirenen und über die Handys Raketenalarm – von Galiläa und dem Golan im Norden bis zur Großstadt Beer-Scheva am Rand der Negev-Wüste im Süden.
Sekunden später vibrierten die Wände, als die über das Land verteilten Abwehrbatterien in Aktion traten. Die schweren ballistischen Raketen, mit jeweils einigen Hundert Kilo Sprengstoff bestückt, kamen in mehreren Wellen – nach israelischen Schätzungen waren es aber insgesamt „nur“ rund 100, während man zuvor mit bis zu 1000 koordinierten Abschüssen binnen weniger Stunden gerechnet hatte.
Die Israelis sind in dieser außergewöhnlichen Situation relativ gefasst – weil sie durch Krisen und Kriege „abgehärtet“ sind, aber vor Allem, weil sie von einem mehrschichtigen Abwehrsystem geschützt werden, wahrscheinlich dem besten der Welt. Oft genannt wird die „Eiserne Kuppel“ („Iron Dome“) – sie kann flach fliegende, aus der Nähe abgefeuerte kleinere Raketen mit weniger als zwei Minuten Flugzeit abfangen und spielt im Krieg gegen den Iran fast keine Rolle.
Im Großeinsatz ist jetzt das System „Pfeil 3“ („Arrow 3“, hebräisch „Chetz 3“). Seine Geschosse fliegen den aus mehr als 1500 Kilometern angreifenden ballistischen Raketen mit fünffacher Schallgeschwindigkeit entgegen, um sie außerhalb der Stratosphäre zu zerstören. Wenig wird dabei über die verblüffenden Kosten gesprochen: Jede einzelne Abwehrrakete kostet rund 2 Millionen Dollar! Und jeder angreifenden Rakete werden zwei Abwehrraketen entgegengeschossen. Eine einzige Raketennacht wie die letzte kostet Israel demnach rund 400 Millionen Dollar.
Die Aussicht auf einen langen Krieg
Der Schutz durch die Raketenabwehr ist hervorragend, aber, woran die israelische Armee die Bevölkerung immer wieder erinnert, natürlich „nicht hermetisch“. Wenn das System eine Erfolgsrate von 90 Prozent hat, dann kommen von 100 angreifenden Raketen eben doch zehn durch. Im Großraum von Tel Aviv haben in der letzten Nacht mindestens drei Raketen eingeschlagen. Im Zentrum von Tel Aviv und in den Nachbarstädten Rischon-Le-Zion und Ramat-Gan wurden Wohnhäuser schwer beschädigt, durch Volltreffer, Druckwellen oder herabfallende Raketenbruchstücke. Drei Menschen wurden getötet und rund 80 Menschen verletzt, zum Großteil leicht.
Die Entscheidung der Regierung, jetzt anzugreifen, weil es die einzige Möglichkeit und letzte Gelegenheit sei, die iranische Atombombe zu verhindern, wird von der Opposition mitgetragen und wohl vom größten Teil der Bevölkerung verstanden. Am Freitag war in Israel nach den Meldungen über die erstaunlichen Leistungen der Luftwaffe und des Auslandsgeheimdiensts Mossad sogar eine Art Mini-Euphorie zu spüren gewesen.
Es grenzt an ein militärisches, nachrichtendienstliches und technologisches Wunder, hieß es, dass es gelungen ist, in dem weit entfernten, riesigen Feindstaat punktgenau Nuklearanlagen zu beschädigen, Raketenstellungen und Flugabwehrbatterien auszuschalten, höchstrangige Offiziere und leitende Atomwissenschaftler zu töten. Vielleicht kann das sogar dazu führen, dass das Regime in Teheran stürzt, vielleicht ist es der erste Schritt zu einem von den iranischen Terrordrahtziehern befreiten „Neuen Nahen Osten“?
Aber zugleich hörte man nüchterne, grimmige Warnungen, auch in offiziellen Statements der Regierung. Wir dürfen den Iran nicht unterschätzen, hieß es da, er ist eine regionale Supermacht. Wir werden einen hohen Preis bezahlen müssen, es wird Zerstörungen und Opfer geben. Dieser Krieg wird viele Tage, vielleicht noch Wochen dauern.