„Regierung muss wirklich liefern“: Druck auf Friedrich Merz bleibt nach Pleite bei Kanzlerwahl
Friedrich Merz (CDU) scheitert im ersten Wahlgang zum Bundeskanzler krachend – Ökonomen sehen ein gefährliches Signal für Deutschland und erhöhen den Druck.
Berlin – Die Erwartungen an die künftige Bundesregierung sind hoch: Unter dem designierten Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) soll die Koalition aus Union und SPD sofortige Wirtschaftsreformen bei Steuern, Energiepreisen und insbesondere der Bürokratie angehen. Erstmals ausgebremst wurde Merz jedoch am Dienstagmorgen (6. Mai), als er im ersten Kanzlerwahlgang im Parlament an der erforderlichen Mehrheit scheiterte – ein klares Misstrauensvotum aus den eigenen Reihen. Immerhin: im zweiten Wahlgang ist Merz zum zehnten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden. Doch die Kritik und der Druck halten weiterhin an.
Friedrich Merz scheitert bei Kanzlerwahl – Ökonomen sehen gefährliches Signal für Deutschland
Die Reaktion aus den Wirtschaftsverbänden folgte prompt: „Dass Merz nun im ersten Wahlgang gescheitert ist, sendet ein verheerendes Signal in die Gesellschaft und in die Wirtschaft: Die Reihen sind nicht geschlossen“, erklärte etwa der Düsseldorfer Ökonom Jens Südekum gegenüber Reuters.
Der Wahlausgang sei somit auch ein Zeichen dafür, dass bei heiklen Themen immer wieder mit Querschüssen zu rechnen sei. Für Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin steht die Niederlage von Merz sinnbildlich dafür, „wie weit Union und SPD politisch voneinander entfernt sind und dass der Koalitionsvertrag bei zahlreichen Abgeordneten auf tiefe Ablehnung stößt“. Dabei galt die Wahl zum Kanzler für Merz eigentlich als Formsache, zumal seine eigene Partei seit Wochen auf den Startschuss hinfiebert.
Linnemann: „Wenn wir jetzt nicht liefern…“ – CDU und SPD stehen unter Handlungsdruck
„Wenn wir jetzt nicht am Anfang liefern, werden die Leute uns nicht vertrauen“, hatte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann noch vor der Wahlschlappe von Merz gegenüber dem TV-Sender Phoenix erklärt. Die ersten 100 Amtstage der neuen Regierung bis zur parlamentarischen Sommerpause im Juli seien entscheidend – und die wichtigsten für die gesamte Wahlperiode.

Wie groß der Druck im Land ist, bekommen Union und SPD bereits seit Wochen von Verbänden und Wirtschaft gespiegelt – durchweg mit aller Deutlichkeit und Zweifeln. „Wenn die Regierung in dieser Legislatur das Ruder nicht herumreißt, werden wir Deutschland in vier Jahren nicht wiedererkennen. Und das gilt politisch, wie wirtschaftlich“, erklärte etwa Christoph Ahlhaus, Vorsitzender des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft, gegenüber tagesschau.de und verwies zudem darauf, dass die Welt nicht auf Deutschland warte. Auch Peter Leibinger, Präsident des Industrieverbandes BDI, fordert, dass der „Bundeshaushalt 2025 im Frühsommer stehen und der Entwurf für 2026 bereits vorliegen“ sollte.
Verbände fordern Investitionen und Superabschreibungen – sonst droht ein verlorenes Jahr
Dazu gehöre insbesondere die Umsetzung des Gesetzespakets zur Modernisierung der Infrastruktur in Höhe von über 500 Milliarden Euro. Ebenso wichtig seien für die Industrie die Superabschreibungen: Die von Union und SPD geplante steuerliche Sonderregelung soll es Unternehmen ermöglichen, Investitionen in Maschinen, Anlagen oder Digitalisierungsprojekte zwischen 2025 und 2027 überdurchschnittlich hoch von der Steuer absetzen zu können – die Koalition erhofft sich davon einen Wirtschaftsaufschwung.
Im Bereich der Energieversorgung gilt die künftige Wirtschaftsministerin Katherina Reiche als Hoffnungsträgerin der deutschen Industrie und Wirtschaft: „Dass eine erfahrene Energiemanagerin und Politikerin neue Ministerin für Wirtschaft und Energie wird, ist dafür ein wichtiges Signal“, hatte etwa BDI-Hauptgeschäftsführerin Tanja Gönner erklärt. Marie-Christine Ostermann, Präsidentin des Verbands Familienunternehmer, erwartet von der neuen Ministerin „nichts weniger als die versprochene Wirtschaftswende“.
Gas aus Russland trotz Kriegs: Verbände fordern einen klaren energiepolitischen Kurs
Beim Thema Energiepreise dürfte auch Merz‘ geopolitischer Kurs eine Rolle spielen. In einem offenen Brief forderten Umweltorganisationen aus Deutschland und der Ukraine die neue Bundesregierung Anfang der Woche auf, sich für die endgültige Abkehr von russischem Gas in Europa einzusetzen: Die Organisationen kritisierten, dass über das bundeseigene Energieunternehmen Sefe nach wie vor „Rekordmengen“ an Flüssiggas (LNG) aus Russland nach Europa komme – und dadurch indirekt der russische Angriffskrieg auf die Ukraine mitfinanziert werde. Diese Tendenz steht im Widerspruch zu den Plänen der EU, bis 2027 kein Gas mehr aus Russland zu beziehen.
Im Mittelstand sind die Lager ebenfalls skeptisch: Laut Ahlhaus zweifeln insbesondere mittelständische Firmen daran, dass sich die Wirtschaft unter einem Kanzler Merz erholen werde: „Unsere neueste Umfrage zeigt, fast jeder zweite Mittelständler ist mit dem Koalitionsvertrag alles andere als glücklich. Mehr als 60 Prozent glauben nicht daran, dass die Regierung unter Friedrich Merz die wirtschaftlichen Probleme in Deutschland in den Griff bekommen wird.“ Besonders die fehlende Regierungserfahrung wird ihm von den Unternehmen negativ ausgelegt.
Zweifel im Mittelstand, Druck auf den Kapitalmarkt – und Merz noch ohne Mehrheit
Für Daniel Saurenz, Kapitalmarktexperte bei Feingold Research, seien jene Reformen umso wichtiger, die Unternehmen mit einem großen Deutschlandgeschäft unterstützen. So sollte sich der Blick der neuen Regierung zwar auch auf die großen DAX-Konzerne richten, allerdings seien Unternehmen aus dem MDAX, SDAX und TecDAX fast noch entscheidender. Für sie sei es nicht so einfach, potenzielle Verluste auf dem heimischen Markt mit ihrem Auslandsgeschäft auszugleichen. Doch bevor Merz dem zweifelnden Mittelstand das Gegenteil beweisen kann, muss er überhaupt erstmal Kanzler werden.
Wann der zweite Wahlgang stattfinden wird, ist noch unklar. Vermutlich im Laufe der Woche – doch die Unsicherheit in Industrie und Wirtschaft dürfte zunehmen. Carsten Brzeski, ING-Chefvolkswirt, erklärte, dass die Wahlniederlage von Merz ein Zeichen für ausländische Investoren sei, dass sich in Deutschland nicht jeder der aktuellen Lage und Dringlichkeit bewusst sei. Er mahnt zur Geschlossenheit: „Das sollte die letzte Erinnerung sein, dass diese Regierung wirklich liefern muss.“